Irene Dische: „Die militante Madonna“ – „Ich bitte Sie: Fünf von fünf Frauen wurden schon sexuell belästigt!“

Das Fluide ist ihr selbst nicht fremd: Die Amerikanerin Irene Dische lässt in ihrem Roman „Die militante Madonna“ eine sehr heutige Figur aus dem 18. Jahrhundert erzählen – ein Treffen in Berlin.
Neben dem Eingang erinnert eine Gedenktafel an einen ausländischen Literaturnobelpreisträger, der einige Jahre in dem Haus in Charlottenburg gewohnt hat. Davon, dass Irene Dische hier zu Hause ist, künden schon die Bücher und Bilder, die man beim Hereinkommen in die Wohnung sieht. Offiziell ist auch sie Ausländerin. Ihre Bücher schreibt sie auf Englisch, allerdings erscheinen sie stets zuerst auf Deutsch. So wie jetzt auch „Die militante Madonna“, ein historischer Roman mit einem sehr gegenwärtigen Kern.
Im Zentrum steht Chevalier d’Éon, 1728 in Frankreich geboren, Doktor der Rechte, Geheimdiplomat im Dienste von König Ludwig XV., Spion, Soldat und Degenfechterin. Denn d’Éon trat im Kampf in Frauenkleidern auf, lebte erst als Mann, später als Frau. In England wurden Wetten über sein Geschlecht abgeschlossen. Er war, wie man heute sagt, transgender.
Dische lässt ihre Figur selbst erzählen, geistreich, abenteuerlich und mit hintersinnigem Humor. Wie ist die Autorin, die mit dem Erzählband „Fromme Lügen“ 1989 sofort sehr bekannt wurde, deren Buch „Zwischen zwei Scheiben Glück“ über einen jüdischen Jungen im Berlin der 30er Jahre den Deutschen Jugendliteraturpreis erhielt, die 2005 in „Großmama packt aus“ so traurig und komisch von ihrer Familie erzählte, auf einmal so tief in der (scheinbar) ferneren Geschichte gelandet?
Es sei, sagt Dische, zunächst die Zeit der Amerikanischen Revolution gewesen, die sie interessiert habe. Die Rassenproblematik gab es damals schon, noch anderes sei ihr vertraut vorgekommen. Sie wollte über einen deutschen General schreiben, „der angeblich die Revolution für die Amerikaner gewonnen hat, Baron von Steuben. Ich hielt ihn für eine sehr ulkige und interessante Figur“.
Dann kam Covid. Irene Dische hatte mehr Zeit zum Recherchieren. „Dabei stieß ich auf d’Éon, diesen Transgender. Da klingelten alle Glocken bei mir.“ Der Zeichner Art Spiegelman riet Dische, aus dem Thema ein Filmtreatment zu machen, „denn das ist die einzige verkäufliche Idee, die du je hattest“. Fünf Seiten wollte sie schreiben, doch wurde es ein Roman. „Ich habe mich immer mehr in die Zeit hineingelesen. Ich wollte wissen, wie die Häuser damals aussahen, wie es roch, mit welchem Aufwand die Betten gemacht wurden, wie man damals pinkelte.“
Sich in andere Leben zu vertiefen, ist normale Schriftstellertätigkeit. Aber war es vielleicht ein Wagnis, sich einer Figur zu widmen, deren Geschlecht nicht feststand? Mit dieser Frage kann man die Autorin auf dem gemütlichen Sofa aus der Ruhe bringen. Sie erzählt vom Krach mit einem engen Freund in den USA. „Du bist selber nicht transgender, das kannst du nicht machen. Kennst du überhaupt das richtige Vokabular?“, zitiert sie ihn. „Er wollte sogar, dass ich mich mit Psychotherapeuten berate, die auf dieses Thema spezialisiert sind.“
Irene Dische sagt, dass ihr das Fluide nicht fremd sei: „Mein Problem an der Debatte ist, dass es eigentlich niemandem fremd sein sollte. Alle Leute, die ich gut kenne, haben Eigenschaften, die man sowohl Männern als auch Frauen zuordnen könnte. Hätte man mir als Kind die Möglichkeit gegeben, ein Junge zu sein, ich wäre lieber ein Junge gewesen.“ Und ihr Sohn hat sich in der Vorschulzeit kaum von seinem Minnie-Maus-Kleid trennen können. „Hört auf to pay too much attention“, sagt sie, also: Macht nicht so viel Wind. Das geht auf Englisch offenbar besser.
Das Buch
Irene Dische: Die militante Madonna. Roman. A. d. Engl. v. Ulrich Blumenbach. Hoffmann und Campe, Hamburg 2021. 224 S., 22 Euro.
Die Schreibsprache und die Sprechsprache seien „zwei Schienen“ bei ihr, sagt Dische. Auf Deutsch könne sie Dialoge schreiben, gesprochene Sprache, ihre Literatursprache aber sei das Englische. Mit Ulrich Blumenbach an der Übersetzung dieses Buches zu arbeiten, sei eine große Freude gewesen. Obwohl es die Übersetzer mit ihr nie leicht hätten, denn sie bekämen ja nicht ein fertiges Buch, sondern ein Manuskript.
Deutsch ist ihre Muttersprache, von den Eltern in New York erlernt, wo sie 1952 zur Welt kam. „Wenn man fließend zwei Sprachen spricht, ist man zwei verschiedene Menschen“, sagt Irene Dische. „Man ist ein anderer in einer anderen Sprache.“ Aber auch um ihre Sprachenfluidität möchte sie nicht viel Aufhebens machen, denn man habe doch oft verschiedene Rollen, verhalte sich in unterschiedlichen Situationen anders – zum Beispiel, wenn man sich fremd fühle.
Die Entscheidung, Chevalier d’Éon in der ersten Person erzählen zu lassen, habe mit der Genderdebatte zu tun: Solange die Figur selbst spreche, müsse sie sich um die aktuell richtigen Begriffe nicht kümmern. Schreiben sei ein bisschen wie Schauspielerei. „Man denkt sich in jemand anderen hinein und bewegt sich von sich selber weg. Und gleichzeitig findet man sich auch in jeder Figur wieder.“
Im Gespräch kommen wir auf ein anderes Thema der Gegenwart, das in den USA, so Dische, noch viel mehr ausgelöst habe als in Deutschland: MeToo. Neulich habe sie eine Umfrage gelesen, nach der eine von fünf Frauen schon sexuell belästigt worden sei. „Ich bitte Sie, was für ein Unsinn. Fünf von fünf Frauen wurden schon sexuell belästigt! Gibt es irgendeine Frau auf Erden, die das nicht kennt? Aber sie müssen so erzogen werden, dass sie sich wehren. Eine Beschwerdestelle hilft nicht.“ Sie war noch ein Kind, als sie ihrer Mutter erzählte, dass sich Männer in der U-Bahn an sie drückten, da habe die ihr ein antikes Armband mit langen spitzen Stacheln geschenkt. „Wenn mir ein Mann zu nahe kam, habe ich diese Stacheln ausgefahren. Meine Mutter hatte recht. Sie hat mich nicht verhätschelt.“ Und noch heute gehe sie nicht ohne Abwehrspray in ein Parkhaus oder auf eine öffentliche Toilette. Denn die Angst bleibe. „Die ist in Frauen drin.“
Ihre Eltern, ein aus Österreich-Ungarn stammender Biochemiker und eine Pathologin, waren Verfolgte des Naziregimes. Als Irene Dische in die Bundesrepublik kam, einen deutschen Mann heiratete (den Anwalt Nicolas Becker), hatte sie gleichwohl Schwierigkeiten, die deutsche Staatsbürgerschaft zu erlangen. Die Österreicher waren weniger kompliziert und gaben ihr den Pass und so lebt sie als Europäerin in Berlin, wenn sie hier ist. Inzwischen sei es auch in Deutschland leichter geworden. „Auch wir Kinder von Verfolgten sterben langsam aus.“
Ist sie Jüdin? Das Verhältnis von Juden zur Religion, ihre Zuordnung durch andere, die Geschichte der eigenen Eltern prägt viele von Irene Disches Büchern. Sie antwortet mit einem Umweg: „Bei meinen Großeltern waren drei von vier jüdisch. Die Mutter meiner Mutter war katholisch, sie hat ihren Mann zum Konvertieren gezwungen. Er hat seine ganze Familie verloren und dennoch gegen die Juden gestänkert. Mein Vater war jüdisch und hat alle verloren. Meine Eltern hatten keine Verwandten, das war eine vom Holocaust entstellte Familie. Ich bin katholisch erzogen worden, aber meine Herkunft ist jüdisch.“
In der „militanten Madonna“ heißt es: „Die katholische Kirche hat das Selbstmitleid und die Ichbezogenheit zwar nicht in den Katalog der Todsünden aufgenommen, aber – seien Sie gewarnt! – sie rangieren gleich hinter Mord.“ An der Stelle erzählt das Ich von der eigenen Mutter, die über das Kind mit dem ungewissen Geschlecht verzweifelt war, doch selbst hat er/sie „nie ernsthaft darüber nachgedacht, ob ich in Wahrheit nun ein Mann oder eine Frau war. Stattdessen hatte ich einfach so gehandelt und gelebt, wie es mir gefiel“.
Nur kein Bedauern also mit dieser fluiden Existenz, suggeriert die Autorin. Nach Lektüre etlicher Briefe und von d’Éons Autobiografie habe sie den Klang dieser Stimme im Ohr gehabt und so geschrieben. Fast alles in diesem Buch sei wahr. Manche Szenen seien aus Situationen zusammengesetzt, auch Außenseiterfiguren zusammengelegt. Die Strafe für Selbstmitleid, schreibt Irene Dische im Namen ihrer Figur, sei das „Ertrinken in den Tränen, die man um sich selbst geweint hat“, und Ichbezogenheit wird so geahndet: „im einsamen Lockdown in einem Spiegelsaal“.
Da hat sich glatt ein Wort eingeschlichen, das auf die Zeit der Entstehung des Buchs deutet. Sie war in den USA mit der Familie, kümmerte sich um die Enkelin, und wenn sie ihre Ruhe haben wollte, setzte sie sich wieder an den Roman: „Die Schreiberei ist auch eine Art Flucht, zum Beispiel von Haushalts- und Familienaufgaben.“ Sie könne dabei abschalten und sei doch nie allein: „Ich gehe zu Partys mit meinen Figuren, ich träume von ihnen. Sie sind echt für mich.“
