Insgeheim aber größenwahnsinnig

Marion Poschmanns hinreißender Japan-Roman "Die Kieferninseln".
Vielleicht ist es die Nähe bei größtmöglicher Fremdheit, die deutsche Autoren und Filmemacher immer wieder dazu verlockt, auf Japan zu blicken. Marion Poschmanns Held begegnet – wenn auch nur im Traum – einem japanischen Zugbegleiter, der sehr betrübt darüber ist, dass derzeit 30 Sekunden Verspätung bestehen. Man vergisst leicht, dass viele Ausländer darüber lachen, wenn sie sehen, dass der Zug um 12.03 Uhr abfahren soll. Das Lächeln gefriert dann oder bekommt wenigstens eine irritierte Note, wenn sie merken, wie die Einheimischen zu murren und zu zappeln beginnen, wenn der Zug um 12.06 Uhr noch immer steht.
Seltsame Leute, denken sie, während die Leser von Marion Poschmann denken, dass es verrückt sei, sich über dreißig Sekunden Gedanken zu machen.Der neue Roman der Lyrikerin erzählt aber nicht bloß einmal mehr vom ulkigen Aufeinanderprallen der Kulturen – davon auch, und Poschmann steht im Vergleich gut und souverän da, wenn man etwa an Christoph Peters’ von Wissen, Feinheit und auch feinem Witz getränkte Japan-Geschichten denkt. „Die Kieferninseln“ begnügt sich aber nicht mit Skurrilem und Groteskem. Vielmehr werden wir Zeugen einer eigenartigen Transformation, für die Japan die köstliche Hintergrundbemalung bietet.
Poschmann gießt das stille, aber extrem geschwinde Auseinanderfallen einer (typisch westlichen, noch dazu einer Geisteswissenschaftler-)Biografie in eine verwirrend leichte, elegante, teils vertraute, teils fremdartige Form: „Die Kieferninseln“ erzählt von einer Reise, wäre aber mit dem Begriff Road-Novel nicht nur deshalb unbefriedigend zu fassen, weil die Figuren kein Auto haben. Vielmehr handelt es sich wohl um einen asiatisierenden, einen west-östlichen pikaresken Roman.
Poschmann schickt ihren unglückseligen Helden auf die schicksalhafte Reise, die Jahrhunderte vor ihm der Dichter Matsuo Basho antrat (zur Orientierung: geboren kurz vor Ende des Dreißigjährigen Krieges, und auch Basho reiste einem Poeten nach, Saigyo, der wiederum Jahrhunderte vor ihm gelebt hatte). Gilbert Silvester, ein nicht mehr ganz junger Privatdozent, der den akademischen Durchbruch nicht geschafft hat und derzeit als „Bartforscher im Rahmen eines Drittmittelprojektes“ tätig ist, hatte das gar nicht vor. Poschmann wählt einen Ausgangspunkt von Freud’schem, aber auch Shakespeare’schem Ausmaß: „Er hatte geträumt, dass seine Frau ihn betrog.“ Dadurch ist er – der, wie auch wir bald nicht mehr, im Verlauf des Buches keine entschlossenen Unterschiede zwischen Traum und Realität machen wird – von der Untreue der offenbar pragmatischen und übrigens ausgesprochen gut verdienenden Mathilda überzeugt. „Er hatte immer gefürchtet, für Mathilda zu langweilig zu sein. Rein äußerlich schien ihre Beziehung intakt. Aber er konnte ihr auf Dauer nicht viel bieten, keine gesellschaftliche Abwechslung, keine genialische Spannung, keine charakterliche Tiefe.“
Da Mathilda (logischerweise) alles leugnet, verlässt er wütend das Haus, fährt zum Flughafen und bucht den ersten möglichen Fernflug. Tokio, was er Mathilda sofort übel nimmt, ausgerechnet Japan „mit seiner aufreibendlangatmigen, äußerst kleinteiligen, ja niederschmetternd manierierten Teekultur“. Gilbert Silvester kann Teeländer nicht ausstehen. „In Kaffeeländern lagen die Dinge offen zutage. In Teeländern spielte sich alles unter einem Schleier der Mystik ab. In Kaffeeländern konnte man Dinge erwerben, auch mit geringen geldlichen Mitteln in einem gewissen punktuellen Luxus schwelgen, in Teeländern erlangte man dergleichen ausschließlich mit Hilfe der Einbildungskraft.“ Gleichwohl ist Gilbert Silvester, ein fabelhafter Jammerlappen vor dem Herren, interessanterweise mitnichten verloren. Im Zeitungsladen am Flughafen kauft er sich nach der Ankunft ein paar japanische Klassiker. Auch Geisteswissenschaften bereiten auf den Umgang mit problematischen Situationen vor. Der Roman „Die Kieferninseln“ schillert bunt und ist nicht leicht zu fassen, was das Thema der Verzweiflung betrifft.
Dies auch deshalb nicht, weil Poschmann Gilbert nun einen noch unglückseligeren jungen Begleiter zur Seite gibt, der sich seinerseits an einem Handbuch für Selbstmörder orientiert. Wer das für einen Spaß hält, schaut sich hinterher an, was das Internet über den Selbstmordwald Aokigahara weiß. Es handelt sich hier um einen jungen Studenten namens Yosa Tamagotchi, der seinem auch oder sogar erst recht aus japanischer Sicht ganz unwahrscheinlichen Nachnamen zum Trotz eine ebenso komische wie tragische Figur ist. Die Frage, ob Gilbert Silvester sie sich nur vorstellt, bleibt im Raum, auf einen solchen Nachnamen könnte er, der bisher wenig mit Japan zu tun hatte, wohl kommen. Wenn er sich Yosa Tamagotchi nur vorstellt, dann stellt er ihn sich so gut vor, dass es gleichgültig wird, ob er existiert oder nicht.
Gilbert, der an sich nicht vorhat, sich das Leben zu nehmen – aber war hat er eigentlich vor? –, verachtet den jungen Tamagotchi, in dem er sich gleichwohl spiegelt. „Yosa gab sich zurückhaltend, war aber insgeheim größenwahnsinnig.“ Auch er ist empfindlich und stilbewusst, was Gilbert seine Vintage-Ledertasche (unbequem im Alltag, auf Reisen aber erst recht), ist Tamagotchi die Kunstbartkollektion, die er bei sich trägt. Japaner und Bärte, gewissermaßen ist Gilbert in seinem beruflichen Element.
Man sieht das Tuschebild vor sich, das Gilbert auf seiner unsinnigen, kulturell aber aufgeladenen Pilgerfahrt von Tokio zu den Kieferninseln von Matsushima zeigt, dem „schönsten Ort Japan“, 2011 im Tsunami-Gebiet. Es steht zu befürchten, dass er jederzeit verschwinden könnte aus dem Bild, so schwerelos ist das alles, während Gilbert an Erdenschwere laboriert. Obwohl Poschmann aus seiner Perspektive erzählt, ist man sich nicht ganz sicher, ob ihm die Fragilität seiner Lage bewusst ist. „Die Kieferninseln“ ist die Geschichte eines Desasters auf ganzer Linie, aber keiner schreit herum.
Die Fallhöhe zwischen Zen-Kultur und Gilberts tropfhaftem und doch irgendwo wackeren Verhalten dem Leben gegenüber, zwischen Tamagotchis Entschluss, sich das Leben zu nehmen, und dem Leiden darunter, dass das Kunstbärtchen im Selbstmordwald abgefallen ist: Poschmann spielt damit, aber sie denunziert ihre Figuren nicht. „Die Kieferninseln“ ist ein so zartes Buch, dass man sich schwer vorstellen kann, wie es von der Longlist für den Deutschen Buchpreis noch auf die Shortlist gelangen soll. Es wäre schön, es wäre richtig, aber es wird auch ohne Getümmel seinen Weg finden.
Marion Poschmann: Die Kieferninseln. Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. 164 Seiten, 20 Euro.