Ingo Schulze: „Der Amerikaner, der den Kolumbus zuerst entdeckte ...“ – Kritiker seiner selbst

Essays und Reden des Autors Ingo Schulze.
Gänsehaut stellt sich beim Blättern durch Ingo Schulzes neues Buch „Der Amerikaner, der den Kolumbus zuerst entdeckte...“ ein. Nicht, weil der sensible Erzähler der nur dem Namen nach „Simplen Storys“ dazu übergegangen wäre, Krimis zu verfassen. Das Buch enthält laut Untertitel Essays, wobei auch Geschichten darin sind, Gespräche und Rezensionen. Es ist der „Charkiw in Europa“ überschriebene Text, der schaudern lässt. Er stammt aus dem Jahr 2016 und handelt von einer Podiumsveranstaltung in der zweitgrößten Stadt der Ukraine. Sie steht jetzt unter Dauerbeschuss.
Ingo Schulze gehört zu jenen Autoren, die von Journalisten gern zu politischen Themen gefragt werden, denn er kann überzeugend argumentieren. Das liegt nicht nur daran, dass Schreiben sein Beruf ist, er selbst viel liest (wie hier mehrere Texte belegen) und ein kritischer Beobachter der Gegenwart ist. Vier abgedruckte Reden zeigen, dass sich sein Denken aus der Erfahrung speist, in zwei politischen Systemen gelebt und sie ausprobiert zu haben. 2014 sprach er vor der Partei Die Linke in Erfurt von der Distanz seiner Familie zum Staat und seinen Schnellkurs in Marktwirtschaft nach dem Mauerfall, als er eine Zeitung gründete, die Produktionsmittel und die Produzenten zu bezahlen und Geld einzunehmen hatte.
Das Buch
Ingo Schulze: Der Amerikaner, der den Kolumbus zuerst entdeckte... Essays. S. Fischer, Frankfurt a. M. 2022. 320 Seiten, 24 Euro.
Der europäische Dreck
Wer Schulzes Roman „Peter Holtz. Sein glückliches Leben erzählt von ihm selbst“ (2017) gelesen hat, weiß, wie er Geld im Überfluss als erzählerisches Element wie den süßen Brei im Märchen nutzen kann. Als politischer Redner – und Denker – geht er weiter. Den Blick von den im Osten erblühten Landschaften lenkt er dahin, wo der europäische oder nordamerikanische Dreck landet: „Das, was die schöne Welt unserer Waren im Innersten zusammenhält, ist Schufterei und sklavenähnliche Arbeit.“
Wie Ingo Schulze die eigene Wortwahl kritischer Betrachtung unterzieht, zeigt dieser Band so vielfältig, dass man ihn als Autor besser kennenlernt. „Entleerte Worte sind schlimmer als geleerte Kassen“, beendet er eine der Sprachglossen, die hier enthalten sind. In einem fiktiven Dialog nimmt er Angela Merkels „Wir schaffen das“ auseinander, um danach Klischee-Fallen der öffentlichen Rede zu markieren. Zum Beispiel, wenn es um „unsere Werte“ geht.
Die standen auch bei der nervösen Diskussion in Charkiw zur Debatte, von der Schulze im eingangs erwähnten Text schreibt. Eine Lyrikerin, die für die prorussische „Volksrepublik Luhansk“ sprach, wurde hart angegriffen. Ihr Rederecht verteidigte der Schriftsteller Serhij Zhadan. Der kämpft gegenwärtig in Charkiw für das Überleben seiner Nachbarn, und das eigene.