In der Identitätsfalle
Der Nobelpreisträger Amartya Sen schreibt gegen den kulturellen Determinismus an
Von Markus Messling
Seit den blutigen Religionsspannungen auf dem indischen Subkontinent, die schließlich 1947 zur Spaltung Britisch-Indiens in die Republik Indien und die Islamische Republik Pakistan führen sollten, ist Amartya Sen sensibilisiert für jede Form von Identitätspolitik. Mit Sorge verfolgt der Nobelpreisträger daher, dass die Kultur heute wieder als großes Erklärungsmuster für die weltweiten Konflikte fungiert. Diese Sorge ist auch der Grund, warum sich der Ökonomie-Professor aus Harvard in den Bereich der Kulturanalyse wagt. Dabei gibt es zwischen beiden durchaus Anknüpfungspunkte: Hatte Sen die naive, aber lange dominante ökonomische Vorstellung bekämpft, der Mensch sei ein stets auf seinen Vorteil bedachter "Homo oeconomicus", so argumentiert er nun gegen den kruden Reduktionismus allen Handelns auf den "Homo culturalis". In beiden Fällen stellt Sen dagegen eine Pluralität von Identitäten, die eine Person ausmachen.
Anthropologisch und erkenntnistheoretisch sagt uns Amartya Sen damit, offen gesagt, nichts Neues. Insbesondere die französischen postmodernen Denker wie Michel Foucault, Jean-François Lyotard und Jacques Derrida haben vehement jede Form des Essenzialismus, also die Rückführung des Menschen auf eine Kerneigenschaft, eine angenommene "Essenz", bekämpft. Deren Annahmen sind im Bereich der postkolonialen Studien ins unmittelbar Politische übersetzt worden: So hat etwa Edward W. Said in seinem einflussreichen Buch über den Orientalismus (1978) analysiert, wie die kolonialen Interessen Europas zu einer sprachlich konstruierten Essenzialisierung der Anderen geführt haben. Sens ebenfalls in Harvard lehrender Kollege Homi Bhabha hat die Vorstellung der Homogenität von Kulturen als Illusion aufgedeckt und dagegen die These von deren "Hybridität" (Mischform) gestellt.
Auch wenn Sen im Wesentlichen sich selbst zitiert, beruft er sich doch unmissverständlich auf diese Vordenker. Seine These, dass sich unser Selbst aus verschiedenen Identitäten zusammensetzt, dass also jemand "gänzlich widerspruchsfrei amerikanische Bürgerin, von karibischer Herkunft ? Christin, Liberale, Frau, Vegetarierin ? Romanautorin, Heterosexuelle, Verfechterin der Rechte von Schwulen und Lesben" usw. sein kann, ist wenig revolutionär. Sein Buch will aber auch keine kulturphilosophische Analyse sein, sondern ein Pamphlet, das die politischen Konsequenzen aus den geistigen Errungenschaften der Postmoderne zieht. Darin liegt einige Kraft. Einerseits, weil Sen sich unmittelbar gegen die Politik des Westens, vor allem der USA, richtet, kulturelle Identität zum alleinigen Deutungsmuster von Konflikten zu erheben. Andererseits, weil in Zeiten, in denen die Ökonomie die ideologische Leitfunktion übernommen hat, das Wort eines ökonomisch geschulten Intellektuellen vielleicht weiter reicht als philosophische Erörterungen.
Das ist jedenfalls zu hoffen. Denn Sen zeigt in seinem - leider furchtbar redundanten - Text plausibel, welche Gefahr darin liegt, menschliches Handeln "solitaristisch" über die kulturelle oder religiöse Herkunft zu deuten: Wenn etwa der von Muslimen ausgeübte Terrorismus monokausal durch die islamische Identität der Aktivisten erklärt wird, dann verkennt man wichtige politische und sozio-psychologische Ursachen. In der Folge wird das Gegenüber als religiöser Eiferer konstruiert. Dem begegnet man dann mit Appellen an den "wahren Islam" als Friedensreligion, also an die Glaubensführer, denen damit eine unumgehbare politische und gesellschaftliche Funktion zugeschrieben wird: Und so schnappt die "Identitätsfalle" zu.
Sen durchleuchtet damit den Mechanismus der von Samuel Huntington geprägten These vom "Kampf der Kulturen", die die von ihr postulierte Zuspitzung ganz wesentlich erst produziert hat. Doch seine Streitschrift entwickelt auch eine innenpolitische Dimension. Sie zielt auf die kommunitaristische Theorie, die sich in den 80er Jahren in den USA herausgebildet hat. Im Gegensatz zum politischen Liberalismus, der auf das Individuum fokussiert, schreibt der Kommunitarismus den Bezügen zur ethnischen Gemeinschaft ("community") eine zentrale Funktion zu. Damit aber ist für Sen die Pluralität der Identitäten einer Person zugunsten einer starken Identitäts-Hierarchisierung aufgegeben worden, die das Individuum vorrangig aus seiner kulturellen Herkunft erklärt. Dies habe dem kulturellen Reduktionismus Vorschub geleistet.
Auch den Multikulturalismus beäugt Sen äußerst kritisch, und zwar dann, wenn darunter ein "pluraler Monokulturalismus", ein Nebeneinander in sich geschlossener kultureller Milieus, verstanden wird. Migranten müssten in demokratischen Gesellschaften immer in eine Kultur der Freiheit eingebettet werden, die jede kulturelle Identität respektiert, aber nur dann, wenn diese die Folge einer freien Entscheidung ist. In diesem Sinne argumentiert Sen leidenschaftlich gegen konfessionelle Schulen, denn Kindern gleich welcher Herkunft müsse in säkularen Einrichtungen die Möglichkeit gegeben werden, ihre Identitäten zu hinterfragen.
Dem ist zweifellos zuzustimmen, und doch liegt in der sympathischen Annahme der "Geltung der freien Wahl" der Knackpunkt von Sens These: Denn unsere Identität(en) entziehen sich in der Alltagsrealität in großem Maße der Hinterfragung - man denke etwa an die Sprache. Sie werden von uns in der Sozialisation im Habitus inkorporiert und sind unser soziales Unbewusstes. Das hätte Sen von dem von ihm wertgeschätzten französischen Soziologen Pierre Bourdieu lernen können. Die Macht der Herkunft zu relativieren, ist eine perpetuelle Reflexionsleistung. Dabei sind unsere verschiedenen Identitäten im Habitus auf feine Weise miteinander verwoben, was ihre Trennung zu einer Abstraktion macht.
Für einen fundamentalistischen Muslim - wie auch Christen - sind alle Bereiche des Lebens dem Glauben unterworfen. Für ihn herrscht das Prinzip der Gottgeleitetheit - das ist keineswegs nur eine Konstruktion von "außen". Das Problem der Rückkehr der Religion ins Politische, wie wir sie zunehmend auch bei uns erleben, lässt sich daher nicht allein durch die Forderung nach identitärer Differenzierung beheben. Zum Schutz der Entscheidungsfreiheit und des weltanschaulich neutralen Staates muss vielmehr doch auch stattfinden, was in Sens Augen allein den Kulturalismus stärkt: Es muss um religiöse und kulturelle Konzepte gerungen werden - nüchtern, ohne das Feuer der Identitätspolitik zu entfachen.