Hilal Sezgin über das Leben mit Tieren: Julchen und der Knoten im Kopf

Hilal Sezgins Buch über ihren Lebenshof, ihre Schafe und tierethische Fragen.
Mit Tieren auf dem Land leben, das tun gar nicht so wenige Menschen. Städterinnen und Städter, die irgendwann „hinausgezogen“ sind, nachdem sie ein paar Jahre „Landlust“ gelesen, idyllische Fotos angesehen haben, nachdem sie aus dem Alter raus sind, in dem man Kneipe oder Club um die Ecke mehr schätzt als eine ungestörte Nachtruhe. Sie leben dann vorzugsweise da, wo angeblich Fuchs und Hase sich gute Nacht sagen, mit ein, zwei Hunden, zwei, drei Katzen, einem Reitpferd vielleicht, Hühner sind schon eher die Ausnahme (die muss man ja vor dem Fuchs schützen), Schafe noch mehr. Bei fast niemandem dürfte aber das Landleben einschließen, eine Augen-OP für ein altes Schaf zu organisieren oder eine Schnecke in einem Terrarium mit Gurkenscheiben hochzupäppeln, bis das zerstörte Haus auf ihrem Rücken wiederhergestellt ist.
Weiterhin unter Tieren
Hilal Sezgins jüngstes Buch trägt den Titel „Vom fordernden und beglückenden Leben mit Tieren“, und so wie sie sich auf dem Land eingerichtet hat, kommt das Fordern, kommt die Schufterei allemal vor dem Glück. Die Journalistin und Autorin, die einige Jahre Redakteurin im Feuilleton der Frankfurter Rundschau war, die an dieser Stelle die Kolumne „Unter Tieren“ schrieb, beschäftigt sich mit philosophischer Tierethik, setzt gleichzeitig das, was sie vertritt, auf einem Hof in der Lüneburger Heide kompromisslos um – und reflektiert gleichzeitig diese Kompromisslosigkeit und ihre Tücken.
So wie jeder Mensch hat bei ihr auch jedes andere Tier im Prinzip ein Recht auf ein Leben, in dem es nicht ausgenützt wird, nicht gegessen, nicht gequält, nicht gezüchtet. Der Mensch kann vegan leben (Hilal Sezgin tut es), viele Spezies nicht. Was also, wenn sie ihre Katzen mit Futter versorgt, in dem auch Tiere verarbeitet sind? Was also, wenn junge Falken mit eigens als Falkennahrung gezüchteten Mäusen gepäppelt werden? Ganz klar sind wir da parteiisch, stellen in aller Regel das relativ seltene Tier über das sich schnell vermehrende, das Haustier über das wild lebende. Und ohnehin unseren Appetit über das Leben von Rindern, Schweinen, Hühnern, Gänsen usw. usf.
Durch ihr Eingreifen, auch das gibt Hilal Sezgin zu, beeinflusst sie den Lauf der Natur zum Beispiel zugunsten ihrer mittlerweile überwiegend sehr alten Schafe – nicht nur, indem sie alle naselang den Tierarzt holt oder eben ein Schaf zur Augen-OP bis nach Hannover bringen lässt. Inzwischen leben auch in der Lüneburger Heide wieder Wölfe. So nimmt sie, ohne zu zögern, die zusätzliche Arbeit auf sich, die Schafe jeden Abend in den sicheren, verstärkten Stall zu bugsieren, sie morgens wieder hinauszuführen auf die Weide. Nicht jedes Schaf folgt ihr sogleich, es kostet Zeit.
Zusatzfrage: Wenn sie ihre Schafe in Sicherheit bringt, muss der Wolf, der sich ja auch ernähren muss, sich an Rehe halten. Ist das gerecht? Zusatzfrage zur Zusatzfrage: Wenn es stimmt, dass Rehe so gewieft sind, einen Wolf zu Schafen zu führen, die dann die für ihn leichtere Beute sind – ist das dann fies? Aber können wir von einem Reh erwarten, edelmütig zu sein, wenn es um sein eigenes Leben geht? „Ich bekomme gleich einen Knoten im Kopf“, formuliert Hilal Sezgin. „Sagte ich schon, dass es vertrackt ist?“
Das Buch
Hilal Sezgin: Vom fordernden und beglückenden Leben mit Tieren.
Knesebeck,
München 2023.
304 S., 24 Euro.
„Ich denke gerade nochmals an die Leute, die mir schreiben, ich würde ,ihren Traum leben‘. Ich glaube, wenn es wirklich ihr innigster Wunsch wäre, würden sie ihn wohl auch realisieren; aber dann halten sie vernünftige Gründe eben doch davon ab.“ Ein solcher vernünftiger Grund ist, dass Tiere an jedem einzelnen Tag zu versorgen sind und es auch keine Pensionen gibt, die ein paar Dutzend Schafe aufnehmen, während man in den Urlaub fährt. Nun sind zwar auch Landwirte angebunden, aber sie verdienen ihren Lebensunterhalt mit den Tieren, die sie halten. Hilal Sezgin im Gegenteil steckt einen großen Teil des Geldes, das sie verdient, in ihre Tiere. Es reut sie nicht, aber, auch das vergisst sie nicht zu erwähnen, sie verbraucht dabei Ressourcen in einer Welt, in der bereits viel zu viele verbraucht werden.
Trotzdem ist es logisch
Die Dinge sind vertrackt. Aber so, wie Hilal Sezgin in diesem Buch von ihrem ganz normalen, ganz ungewöhnlichen Leben erzählt, liest es sich nicht nur unterhaltsam, sondern auch irgendwie logisch. Ihre Tiere, das versteht sie plastisch zu machen, haben alle einen eigenen Charakter, ob sie Josh, Emil oder Domino heißen, Toffee oder Merlin. Na ja, abgesehen von der Schnecke Nougat vielleicht. Und alle geben ihr etwas zurück, wenn sie sich um sie kümmert - indem sie sich um sie kümmert.
Ihren Hof nennt sie einen „Lebenshof“, keinen „Gnadenhof“ – es sei keine „Gnade“, ein Tier vor dem Schlachttod zu bewahren. „In meinen Augen vertreten und verkörpern Lebenshöfe eine zentrale ethische Idee vehement und beinahe bis an die Grenzen ihrer Plausibilität: Auch wenn Milliarden Tiere geschlachtet werden, ist jedes einzelne Leben wertvoll und verdient Schutz vor menschlicher Willkür.“ Man dürfe sich nicht, so Hilal Sezgin, „durch die Frage nach der Verhältnismäßigkeit aus der Bahn werfen“ lassen.
Und noch einmal sind wir bei dem Schaf, das zur Augen-OP nach Hannover gefahren wird. Es heißt Julchen und hatte danach wieder ein bisschen mehr Lebensqualität. Soll man das Verschwendung nennen? Hilal Sezgin tut es in keinem Fall.