Hier spricht Elihu Hoopes, der gestorben ist
Joyce Carol Oates, die am 16. Juni 80 Jahre alt wird, erzählt von einem Mann, der nach 70 Sekunden alles wieder vergisst.
Hal-lo“, sagt Elihu Hoopes ein ums andere Mal, sagt es vorsichtig abwartend wie auch rührend hoffnungsvoll. „Hal-lo“, sagt er Tag für Tag, wenn Margot Sharpe sich ihm vorstellt, ein ums andere Mal. Und am nächsten Tag wieder „Hal-lo“, während er versucht, diese fremde Frau einzuordnen. Ist sie eine ehemalige Mitschülerin namens Margaret, Margie? Ist sie Ärztin? Aber warum trägt sie dann keinen Kittel? Elihu Hoopes – E. H. in den wissenschaftlichen Texten, die über ihn veröffentlicht werden, veröffentlicht überwiegend von Margot Sharpe – glaubt manchmal, das könnte Margie sein, und glaubt meistens, diese Frau noch nie gesehen zu haben. Denn er „wird für immer siebenunddreißig sein. Er wird für immer nicht recht wissen, wo er sich befindet und was ihm zugestoßen ist.“
Was ihm zugestoßen ist? Nach einer schweren Hirnhautentzündung im Alter von 37 Jahren ist Patient E. H. von einer retrograden Amnesie befallen: Alles just Passierende kann er sich für maximal 70 Sekunden merken. Noch mit weit über Sechzig wird er überzeugt sein, das „Feuer“ habe in seinem Gehirn vor sechs Monaten, höchstens anderthalb Jahren gewütet. Oder er wird sich zu erinnern meinen, dass er mit der Beechcraft seines Großvaters abgestürzt ist. Bis zu seinem Tod wird er nicht in der Lage sein, sich eine Vorstellung von der Zukunft zu machen, er wird sie nicht mehr ausreichend nach vorne denken können.
Andererseits wird er offenbar verfolgt von der Erinnerung (dem Alptraum?) an ein Mädchen, das ertrunken ist. Elihu Hoopes, Patient E. H., ist Joyce Carol Oates’ „Mann ohne Schatten“, denn: „Ohne Erinnerung sein ist wie ohne Schatten sein.“ Und das Mädchen, das Hoopes hundert Mal, vielleicht im Laufe seines Lebens tausend Mal zeichnet, wie es tot in einem Bach liegt, belegt Oates’ Vorliebe für zumindest eine kleine Dosis Schauer in jedem ihrer Bücher.
„Der Mann ohne Schatten“, im Original 2016 erschienen, ist der 44. Roman der US-Amerikanerin Joyce Carol Oates (gar nicht gerechnet die, die unter anderem Namen herausgekommen sind). An diesem Samstag wird die immer wieder auch für den Nobelpreis gehandelte Oates 80 Jahre alt – aber 2018 muss nun keiner darüber spekulieren, ob sie ihn erhält, da die Verleihung abgesagt ist.
Vermutlich ist Joyce Carol Oates seit „The Man Without a Shadow“ schon wieder zwei, drei Bücher weiter. Verweise auf ihre Produktivität werden oft mit einem quasi zu Papier gebrachten Kopfschütteln verbunden, als würde sie ihre einzelnen Bücher dadurch entwerten, dass sie so viele schreibt. Doch wie ihre kanadische Kollegin Margaret Atwood denkt Joyce Carol Oates nicht daran, sich zu entschuldigen (und warum sollte sie?), hat vielmehr zu Protokoll gegeben, es steckten noch viele Bücher in ihr.
Sie ist diszipliniert, keineswegs schludrig. Sie pfeift aber auf Zurückhaltung und Genregrenzen. Ihr Schreiben ist gewissermaßen furchtlos, das Scheitern scheint sie jeweils fröhlich einzukalkulieren. Im letzten Jahrzehnt erschien, unter anderem, ihre berührende, verzweiflungsdunkle Abrechnung mit dem unerwarteten Tod ihres Mannes Raymond Smith („Meine Zeit der Trauer“), erschienen ein betörend eigenwilliger Schauerroman („Die Verfluchten“) und ein verspielt-gruseliger Thriller („Pik-Bube“, siehe FR vom 3. Mai), im vergangenen Jahr dann der Roman „A Book of American Martyrs“, der vom erbitterten, ja mörderischen (Glaubens-)Kampf von Abtreibungsgegnern und Abtreibungsbefürwortern erzählt.
Zu „Der Mann ohne Schatten“, das sich vor allem zwischen einer Neuropsychologin, Margot Sharpe, und einem Amnesiekranken und Forschungsobjekt (später noch mehr zum „Objekt“), Elihu Hoopes, zuträgt, kam es vermutlich, da Oates nach dem Tod von Raymond Smith den Psychologieprofessor Charles Gross kennenlernte und heiratete. Die Idee zu diesem Roman wird sie also von Gross haben. Ins Denken und Seelenleben eines Menschen, dessen Erinnerung im 37. Lebensjahr abbricht, hat sie sich aber dann mit großartiger Einfühlung hineinbegeben (soweit das jemand von außen, darüber voll Beklemmung lesend, je beurteilen kann).
In der geradezu fanatisch arbeitsamen Neuropsychologin Sharpe mag einiges von Oates selbst stecken, doch diese Figur bleibt einem dennoch ferner als der Mann, dessen zuvor erfolgreiches Leben – guter Sportler, brillanter Student, engagierter Bürgerrechtler – eine so dramatische Veränderung erfahren hat. E. H. hat die Manieren (und die Kleidung, er achtet sehr auf seine Kleidung) eines Gentleman. Fast immer macht er klaglos alle Tests mit – und es wird doch fast täglich dies oder jenes an ihm ausprobiert im neurologischen Institut der Universität. Vielleicht ist er aber nur so freundlich und entspannt, da ihm die Aufgaben, die er lösen soll, ja jedes Mal – aufregend? – neu erscheinen müssen.
„Der arme Mann denkt, er wäre wie wir“, glaubt Margot Sharpe. Aber nein, genau das denkt er nicht. Denn Tag um Tag trifft er – abgesehen von seiner Tante, bei der er lebt – ausschließlich Menschen, die ihm fremd sind. Und wieder und wieder fremd. Er ist höflich, da er davon ausgeht, dass es für ihn sicherer ist, wenn er sich gegenüber diesen Unbekannten höflich verhält. Da er hofft, dass ihn vielleicht jemand retten wird. Obwohl er nicht genau versteht, aus was und wie er überhaupt zu retten wäre. Manchmal sagt er Dinge wie: „Hier spricht Elihu Hoopes, der gestorben ist. Hal-lo!“ Manchmal sagt oder tut er Dinge, die Margot Sharpe erschrecken.
Aber sie ist es, die bei Oates ethische Grenzen überschreitet. Im Wissen darum, dass er sofort vergisst, erzählt ihm die Einsame Persönliches – hat trotzdem Angst, dass ein unbewusster „Schmierfleck“ bleiben könnte. Sie führt Eli (sie nennt ihn nun meist Eli) in den Wald, sie hat dort Sex mit ihm, dann richtet sie ihrer beider Kleidung und Haar, damit es nur keiner merkt. Sie gibt sich Elihu gegenüber als seine Ehefrau aus; es verwirrt ihn noch mehr. Einmal wird er aggressiv, und Margot ist schockiert über das, was er sagt, ihr kostbares Forschungsobjekt: „und jetzt führt ihr mich, weil alles kaputt ist, an der Leine herum“. Für einen Moment erkennt Patient E. H., dass die Forschenden nicht forschen, um sein Gehirn zu heilen. Aber zu deren Glück hat er auch das gleich wieder vergessen.