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Salman Rushdie: Quichotte, der Herr der Raumzeit

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Von: Arno Widmann

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Unentwegt das Abenteuer suchend: Don Quijote, hier auf einer Illustration von Felician von Myrbach-Rheinfeld (1854 - 1940).
Unentwegt das Abenteuer suchend: Don Quijote, hier auf einer Illustration von Felician von Myrbach-Rheinfeld (1854 - 1940). © epd

Nehmen Sie eine Woche Urlaub und lesen Sie Salman Rushdies neuen Roman „Quichotte“.

Ab heute liegt in den Buchhandlungen die Übersetzung des neuen Romans von Salman Rushdie. Auf der Rückseite des Schutzumschlages steht: „Quichotte, inspiriert von Cervantes’ Klassiker, erzählt die Geschichte des Handelsvertreters Ismael Smile, der sich in einen Fernsehstar verliebt und auf eine Reise quer durch die USA begibt, um sich ihrer als würdig zu erweisen.“ So knapp und also fast völlig daneben.

„Quichotte“ ist nicht von Rushdie. „Quichotte“ wird von einem von Rushdie erfundenen Autor erzählt . Der war bisher ein mäßig erfolgreicher Autor von Spionagegeschichten. „Quichotte“ ist sein Versuch eines Sprungs in die ganz andere Welt der Literatur. Eine Komplikation. Eine von sehr, sehr vielen.

Salman Rushdie, der Meister der Abschweifung

Wer findet, ein guter Roman erzähle eine Geschichte und sonst nichts, der ist bei Salman Rushdie schon immer beim falschen Lieferanten. Rushdie ist der Meister der Abschweifung, der „king of complications“. Wer die nicht liebt, der sollte sich Rushdie und nun gar diesen „Quichotte“ vom Leib halten. Sonst geht es ihm wie dem Rezensenten des „New Statesman“. Der schrieb am 28. August, kurz bevor die englischsprachige Ausgabe in den Schaufenstern lag: Rushdie sei „anfällig für Takt- und Geschmacklosigkeiten und es fehle ihm an Respekt für das Zeitbudget des Lesers und seine Konzentrationsfähigkeit.“

Das ist rührend. Rushdie ist definitiv nicht „anfällig“ für Takt- und Geschmacklosigkeiten“. Rushdie liebt sie. Wenn Rushdie-Leser etwas gelernt haben in den letzten Jahrzehnten, dann, dass das Leben erst jenseits des guten Geschmacks beginnt. Der Herr vom „New Statesman“ will die Leser warnen vor diesem schmutzigen Jungen, der den Literaturbetrieb beschmutzt. Sehr gut. Er hat recht mit jeder seiner Aussagen.

Salman Rushdie: erbarmungsloser Dieb der Lebenszeit

Rushdie klaut dem Leser erbarmungslos Lebenszeit. 486 Seiten hat die deutsche Übersetzung von Sabine Herting. Die englische Ausgabe hat knapp 400 Seiten. Das sind schon bei einem normalen Buch zehn, fünfzehn Lektürestunden. Aber rechnen Sie ruhig das Doppelte ein. Bei Rushdie müssen sie dauernd stoppen und lachen und nachdenken. Dauernd heißt: mehrmals auf einer Seite. Quichotte ist vollgestopft mit Anspielungen auf die Literatur und das Leben, auf Kino und Fernsehen. Wenn eine Frau an Marilyn Monroe erinnert, dann heiratet ihr Mann nach ihr eine Fotografin, die Arnold heißt und die Standbilder für ihren letzten Film machte. Nun: Eve Arnold machte bei Marilyn Monroe die Standbilder für „The Misfits“. Arthur Miller heiratete allerdings dann Inge Morath.

Für seine Figuren mischt Rushdie Realität und Erfindung. Aber er lässt immer noch die Fetzen, aus denen sie zusammengesetzt wurden, erkennen. Es sind Collagen. Wild zusammengefügte, aneinandergeklebte Wirklichkeiten. Die zwischen den beiden Buchdeckeln Eigenleben entwickeln und auch ihrem Erfinder immer wieder aus der dem Ruder laufen. Das erst macht sie lebendig. Das erst lässt das Buch kein Buch über Abenteuer, sondern selbst ein Abenteuer sein.

Wer Salman Rushdie lesen will, der muss sich konzentrieren können

Konzentrationsfähigkeit. Die braucht der Rushdieleser. Mehr als irgendwo sonst. Rushdie lesen heißt immer wieder: Verfolgungsjagd auf vollbelebten Straßen. PKWs, LKWs, Fußgänger, Fahrradfahrer, Rikschas, Kühle, E-Tretroller. Alle Geschwindigkeiten, alle Größen und Gewichte. Kein Mensch kommt da mit. Natürlich stoppen sie das Auto. Sie drehen sonst durch. Eine Achterbahn ohne Verankerung. Halten Sie ruhig an. Es ist ja nur ein Buch. Sie bestimmen die Zeit. Ganz gleich, was der Autor ihnen vorzugeben scheint.

Spielen Sie ihm gegenüber nicht den Oberlehrer, der weiß, wie die Dinge zu sein haben, wie man richtig über sie schreibt, was in welchen Zusammenhang gehört und was nicht. Rushdie schreibt, seit er es tut, um diesen Gewissheiten den Garaus zu machen. Cervantes’ Geschichte hat nichts mit „Der Konferenz der Vögel“ von Farid ud-Din Attar (zwischen 1120 und 1220) zu tun? Beim persischen Autor machen sich die Vögel auf die Reise. Sie suchen überall nach dem idealen König. Am Ende ihrer Reise erkennen sie, dass sie selbst der König sind. Das ist ein Wortspiel. Der persische Name des Königs „Simurgh“ bedeutet, getrennt geschrieben „Dreißig Vögel“ („si murgh“). Für die persische Geschichte war nötig, dass während der Reise von Tausenden Vögeln am Ende nur noch dreißig übrigblieben. Nur so hatte sie eine Pointe, wurde sie wahr.

Salman Rushdie ist und bleibt ein Spieler: auch bei „Quichotte“

Ismail Smile heißt „Quichotte“ als Pharmavertreter also Smail Smail. Es sind billige Spieler- und Bluffereien. Aber man tut gut daran, sie nicht zu vergessen. Sie spielen im Lauf der Handlung immer wieder eine Rolle, nehmen ernste Wendungen, werden wichtig und erklären den Charakter. Mal den Quichottes, mal den seines Autors.

Der Leser kann den Roman immer in verschiedenen Richtungen lesen. Er kann so tun, als gäbe es nur die Quichotte-Strecke. Er kann aber auch das Feld, die Raumzeit ändern und hinüberschauen auf den Autor.

Salman Rushdie, so klug er zu argumentieren versteht, ist ein Spieler. Er sitzt am Schreibtisch wie Franz Liszt am Klavier saß und improvisiert. Jedenfalls tut er so, und der Leser sollte ihm zuhören, sich von ihm auf Nebengeleise ins Unbekannte locken lassen. Dazu ist lesen da.

„Quichotte“ folgt seinem Schöpfer Salman Rushdie in die USA

„Quichotte“ spielt heute in den USA. Der Held des Romans wurde vor siebzig Jahren in Bombay geboren – wie sein Autor und wie dessen Autor Salman Rushdie –, ging ins „Land der Freien“, arbeitete dort bis zu seiner erzwungenen Pensionierung als Pharmavertreter. So wie „Don Quijote“ dem Zauber der Ritterromane erlag, so verliert „Quichotte“ in den von ihm haltlos konsumierten Reality-Shows des Fernsehens jeden Realitätssinn. Fantasie und Wirklichkeit verbinden sich zu einem lebensgefährlichen Gebräu. Rushdie-Leser wissen nur zu genau, dass Literatur eine Droge ist und Salman Rushdie einer, der einen Stoff liefert wie kaum jemand sonst, ein unwiderstehlicher Dealer.

Sprechen wir noch einmal über die Zeit. Mit das Verlockendste am Autorendasein ist: Man ist Herr von Raum und Zeit. Man erschafft sie nicht nur am Anfang und lässt sie dann ihrer Wege gehen. Nein, immer wieder interveniert man. Dehnt einen Augenblick, indem man ihn genau beschreibt, indem man schildert, was alles noch zum selben Zeitpunkt an anderen Orten, in den Köpfen anderer Menschen passiert, dann wieder heißt es: einen Monat später. Und mehr nicht.

Salman Rushdie presst die Zeit zusammen

Rushdie presst die Zeit zusammen, dehnt sie. Wir schauen ihm dabei zu und denken an Popeye und noch mehr tun wir das, wenn Rushdie anfängt von Löchern in der Raumzeit zu reden, von Nebenuniversen, in die man immer mal wieder gerne fliehen würde. Am Ende – so viel sei doch verraten – wird es apokalyptisch und aus dem kleinen Popeye-Rushdie wird ein Mister Universum, der seine Helden aus ihrer Welt, aus seinem Buch, gehen lässt wie Charlie Chaplin es tat mit Paulette Goddard, als die beiden aus „Moderne Zeiten“ hinausspazierten.

Salman Rushdie: Quichotte. Roman. A. d. Eng. v. Sabine Herting. C. Bertelsmann, München 2019. 464 S., 25 Euro.

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