Hemingway war nie im Schwabenland

Grandios geschrieben und sehr gegenwärtig: Kai Wielands Roman „Zeit der Wildschweine“.
Lesen Sie nicht den Klappentext, wenn Ihnen jemand dieses Buch in die Hand drückt. Lesen Sie einfach los. Und lassen Sie sich nicht davon abschrecken, dass es in einem Boxstall beginnt. Leon, aus dessen Perspektive der Roman „Zeit der Wildschweine“ erzählt ist, beherrscht den Boxsport ebenso wenig wie sein Widerpart Janko. Anfangs beäugen die beiden einander nur, wollen sich aus der Deckung holen – „,Was?‘, fragte ich. ,Was was?‘, entgegnete er“ -, versuchen herauszufinden, wie der jeweils andere tickt.
Leons Stimme klingt da ein bisschen großmäulig, die Sätze schaukeln wie die Schritte eines abgehalfterten Stuntmans oder alten Cowboys im Film. Kai Wieland gibt mit Zitaten zu erkennen, dass er einer seiner beiden Figuren eine konkrete Rolle zuordnen möchte: Brad Pitt als Tyler Durden in „Fight Club“ von 1999. Und nein, wer den Film nicht gesehen hat, muss sich nicht ausgeschlossen fühlen. Wichtig ist nur: Es geht um Männlichkeit.
Janko, „schief grinsend, voller Hohn für unser Kieferorthopädenland“, heißt gar nicht Janko, will aber mit diesem Namen eine Herkunft manifestieren. Das führt zur Erklärung, warum er als Fotograf arbeitet. Das führt aber auch zu einer bitteren Geschichte aus den Jugoslawienkriegen in den 90er Jahren. Dagegen ist das Gehabe im Boxkarree Kinderkram. Kai Wieland erfasst mit seiner Sprache Milieus und macht sie für Menschen außerhalb dieser Szenen begehbar. Leon, aus dessen Perspektive die Leser schauen, ist ein Reisejournalist, der schon viel gesehen und geschrieben hat – auch wenn er die Texte in den Belegexemplaren oft kaum wiedererkennt. Wenn er gefragt wird: „Hast du Lust auf Frankreich?“, denkt er: „Bitte nicht schon wieder.“ Aber er wird nach Frankreich fahren, in den Norden, um sogenannte Lost Places zu erkunden, von der Zivilisation aufgegebene Orte. Mit Janko.
Der Titel „Zeit der Wildschweine“ bezieht sich direkt auf die vielen Abende im Frühjahr, an denen etwas in diesem Buch geschieht: Es sind die Stunden, da man den Wald und das Maisfeld meiden sollte, weil da die Bachen am aggressivsten sind. Es ist auch die Zeit, die Leon mit dem Nachbarn seines Vaters verbringt, er „hörte ihm gerne zu, weil seine Stimme abweisend und roh klang, als habe er ein adelndes Maß an Leid erfahren“, ein Naturmensch, in vielen Ansichten unerträglich altbacken, aber doch lebenstüchtig. Mit der Zeit der Wildschweine bildet Wieland metaphorisch auch die verlorene Kindheit ab, die Zeit, da die Mutter von Leon noch lebte. Und als der Vater noch glücklich war. Unter dem ruppigen Gehabe des Erzählers steckt eine Trauer. Seine Schwester hält sich damit nicht mehr auf, sie organisiert den Alltag für ihre Familie mit lernbehindertem Sohn und Säugling.
So abgeklärt der Erzähler daherkommt, so unterlegen ist er den beiden Frauenfiguren im Buch. Die eine, seine Schwester, wirkt geheimnislos geradlinig, sich ihres Platzes im Leben bewundernswert sicher. Die andere erscheint Leon mal als Nixe, mal als Lockvogel zu den angeblich verlassenen Orten in Frankreich, umgarnt ihn mit Legenden. Denn es sind die Geschichten, die ihn in die Welt ziehen, weg von der schwäbischen Provinz.
Leon mag ein nachlässiger Bruder, Onkel, Sohn und ein schlechter Gärtner sein, ein nur mäßig begeisterungsfähiger Reisejournalist, aber er ist ein leidenschaftlicher Cineast. Er betrachtet Menschen mit „Fightclub“ im Kopf und vergleicht den Strand von Dünkirchen mit den Bildern aus der Ian-McEwan-Verfilmung „Abbitte“ von 2007. Und dann landet ausgerechnet er in den Kulissen von Christopher Nolans Dreh zu „Dunkirk“. Die Leserin weiß nun, wann die Handlung spielt, im Jahr 2016 nämlich. Kai Wieland setzt mit den Filmen generationenverbindende Erkennungszeichen. Und noch mehr: Der historische Kriegsschauplatz liegt nicht weit entfernt von Calais, wo in der Gegenwart der Romanhandlung die Flüchtlingscamps Europas Selbstzufriedenheit infrage stellen.
Seine Herkunft bezeichnet Leon mit dem 49. Breitengrad. Der Autor selbst ist 1989 in Backnang eben auf jener geografischen Linie in Baden-Württemberg geboren. „Hemingway war nie im Schwabenland“, konstatiert Leon. So wie er auch feststellt, dass nie einer wie Bruce Springsteen über dessen Straßen gesungen habe. „Auf schwäbischen Straßen wird im Allgemeinen einfach bloß gefahren.“ Diese schief-komische Erkenntnis kommt ihm, da er gezwungen ist, an sein Zuhause zu denken, eine Nachricht seiner Schwester seine Koordinaten ins Zittern bringt.
Der Klappentext des Buches fasst es schon richtig, wenn „Zeit der Wildschweine“ ein „dringlicher Roman über Halt und Entwurzelung in der globalisierten Welt“ genannt wird. Allerdings macht nicht das große Thema dieses Buch groß. Kai Wieland überzeugt mit seinem Ton, mit seinem Stil. Er schafft es, mit der Geschichte eines orientierungslosen Um-die-Dreißigjährigen aus der Provinz zu verfangen, weil seine Sprache die Enge sprengt. Lesen Sie dieses Buch und geben es weiter, darüber wird noch zu reden sein in diesem Herbst.