Von Heliogabalus, Odschibwäern und Scapulimantik
Weltpanorama und Fundgrube animistischer "Überlebsel": Mit dem Kulturanthropologen Edward B. Tylor wurde ein einmaliger Universalgelehrter wieder ausgegraben
Von ULRICH HOLBEIN
Papst Paul III. betonte 1537, Indianer seien Menschen. Häuptling Ingimund sperrte drei Finnen in einer Hütte drei Nächte ein, damit sie auf Seelenreise nach Island gehen und dann berichten. Buddha, inkarniert als Eichhörnchen, versuchte das Meer, auf das sein Nest hinaustrieb, mit seinem Schwanz aufzutupfen. - Aus solcherlei Ethnographica formte Edward B. Tylor (1832 - 1917) eine gewaltige animistische Theorie, die ihn zum Darwin der Religionsphilosophie machte. Millionen strenggläubige US-Amerikaner ahnen nicht, dass sie auf Tylor genau wie auf Darwin loshacken müssten; denn wer sieht gern die einzige Wahrheit kausal aus dubios schamanischen Vorstufen hervorsteigen, und so stringent mit uferloser Beweislast sah man's nie.
Nach den Weltchroniken kamen die Enzyklopädien: Grimms Riesendom, Humboldts Kosmos, Diderot. Joseph von Görres grub alles über dämonische Mystik aus, Wilhelm Mannhardt alles über Waldkulte; alle versanken lebenslang mit mikroskopischer Akribie in wachsender Überfülle; Tylors Gebirgsketten gingen in Sir James Frazers Himalaya über (The Golden Bough, 12 Bände); Otto Dähnhardt (Natursagen), Will-Erich Peuckert (Pansophie) und viele andere mündeten ein ins Handbuch des deutschen Aberglaubens von Bächtolt-Stäubli und 80 Gelehrten, allesamt Fossilien und Ausgräber, die in wechselndem Maß ihrer eigenen Ausgegrabenwerdung harren; im 20. Jahrhundert dann benutzt, ergänzt, kaum überboten, übertönt von Mythologen und Kompilatoren wie Mircea Eliade, Joseph Campbell, Barbara G. Walker, zuzüglich Helmut Zanders und Hans Werner Ingensieps löbliche Standardwerke über Seelenwanderung und Pflanzenseele.
Tylor, sprachlich bestes 19. Jahrhundert, auch physiognomisch ein Charakterkopf à la Ernst Haeckel oder Konrad Röntgen, guckt aus Zeitläuften heraus, in denen Wissenschaftler noch schreiben und denken konnten wie Klassiker, und alles herblättern, mehr als alles, nicht bloß Edda, Vulgata, Cicero, obendrein grönländische Grammatik, tasmanische Wörterbücher, Hindudialekt-Indexe, und synoptisch vergleichen, kurz bevor wissenschaftshistorisch zunehmend auf Glatteis und Nebengleis operierende Universalgelahrtheit panoramatischer Großwerke in Spezialgebiete einseitig begabter Koryphäen und weltberühmter Fachidioten zerfizzelte.
Urvater der Kulturanthropologie
Einerseits gilt Tylor als erster Urvater der Kulturanthropologie, andererseits lag bereits auch ihm eine "unermessliche Menge der uns zu Gebote stehenden Zeugnisse" vor, zum Beispiel Steinhausers Religion des Negers, 1856. Einerseits steht in jeder Sekundärliteratur, Tylor sei der Erfinder des Animismus, andererseits steht bei Tylor, das Wort "Animimus" werde jetzt nur noch selten gebraucht. Er hat's halt reanimiert. 440 Seiten seines Hauptwerks handeln allein von animistischer, bisweilen auch spekulativer Philosophie. Ein besonderes Verdienst: eine Theorie der Überreste barbarischen Denkens in späteren Stadien, genannt survivals (Überlebsel), der berühmte Bär im Smoking, und Neandertaler in Mercedes und Kampfjet.
Neben beliebten Fremdworten wie Metempsychose, Idolatrie, Pneuma, Parthenogenesis lässt Tylor wundersame Worte sich tummeln, die selbst Google & Wikipedia nicht herbeispülen, wie Anthropopathisten und -physisten, oder Scapulimantik. Völkerschaften und Figuren, an die jeder lang nicht dachte, Odschibwäer, Tonquinesen, Mandanen, Payaguas, Tupinambas, die Tagalen auf Luzon, sonnenanbetende Atschalaken auf Florida, Nilvölker wie die Kytsche, Dinkas, Schilluken, malagasische Magier rücken plötzlich hochrelevant ins Bildzentrum, Visionäre vom Fach, Fastenwächter, Bauchredner, Wongmannen (= Geisterdoktoren!) beten vor Familiardämonen und Puppen aus Gras und Häuten, stehen brüderlich und in praktisch denselben Aberglauben verstrickt neben christianisierten Schlesiern und Tyroler Bauern. "Als später Salomo durch das Affenthal zwischen Jerusalem und Mareb ging...", oder: "der turanische Schamane liegt in Letharghie..." - so poetisch konnte Wissenschaft damals klingen.
Die entseelte/entzauberte Welt schildert Tylor mit weiterhin beseelten Worten: "Keine Gottheit kocht mehr in dem siedenden Topfe, keine mächtigen Geister hausen mehr in den Tiefen des Vulkans, keine heulenden Dämonen schreien aus dem Munde des Mondsüchtigen." Also Aufklärung, aber das Buch als international/polytheistisches Dämonen-Museum enthält mehr durchnumerierbares Dämonenwimmeln als die Krähwinkel früherer dämonisch intakter Zeiten. Weitere Tylor-Themen: Polytheismus, Götzendienst, Zählkunst, Nies- und Grußformeln, Rätselraten, Geistereinkörperung, Vergeltungstheorien; noch nicht von Freud geschädigter, das heißt einseitig entfärbter Fetischismus; susurrus necromanticus (Murmelzauber); homo caudatus, der geschwänzte Mensch; Donnerkeile; Luftlöcher in Särgen; Geister-Fußstapfensichtbarmachung.
Feldforscher denunzierten Tylor als Schreibtischethnologen und Lehnstuhlphilosophen. Heutige Anthropologen, alles Enkel und Setzlinge von Tylor u.v.a., wähnen turmhoch über diesem Stammvater zu stehen, halten ihn, wie Sir Frazer u.a., großteils für überholt, als besserwissende, die Schultern der Riesen besudelnde Zwerge. Sulus, Japanesen, Abyssinier, Tauisten veralten nicht dadurch, dass sie sich heute Zulus, Japaner, Äthiopier, Daoisten schreiben. Abiponer, Seminolen, Fidschi-Insulaner heißen dafür immer noch so. Nympholepsie hieß 1871 noch, bevor sie gen Lolita-Syndrom und Pädophilie sich synonymisierte, Besessenheit von Dämonenweibern.
Wahrsagekunst aus Schulterblättern
Querbezüge zu heute hageln zentnerweise: Normannen, denen Heldentod versagt blieb und die sich selbst verwundeten, um ruhmlosem "Strohtod" auszuweichen und doch noch nach Walhalla zu kommen, inkarnieren heute als Dschihadisten und Selbstmordkommandos. Esoteriker könnten erfahren, wie sich ihr Treiben und Tun aus vorchristlichen Strukturen ableitet, von denen sie nie etwas ahnten; Heliogabalus klang für römische Ohren so attraktiv wie Yinyang oder Avalon für New-Age-Freaks. Dass Tylors Lateinzitate nicht übersetzt wurden, englische aber durchaus, wie bei Schopenhauer, sagt indirekt einiges über heutige Pisastudien-Opfer. Päpste betonen weiterhin, dass andere Glaubensangehörige Menschen seien. Durch Tylor erfährt jetzt sogar die Schmidt-Forschung, wo Arno Schmidt sich für seine Story "Kleine graue Maus" bediente (König-Gunthram-Sage!).
Wer sich abschrecken lässt von damals unschuldig klingenden Termini "niedere Rassen" oder "primitive Psychologie", wird weiterwursteln in up to dater, aber kümmerlicher Weltbildausstaffierung und Feindbildpflege. Und wird nie erfahren, was Omoplatoskopie heißt (Wahrsagekunst aus Schulterblättern). Huronische Kriegstote erhielten im Jenseits eigene Reservate, vereint mit Selbstmördern. Böse Salisch-Indios wurden nachtodlich gequält, indem ihnen Beute vorgeführt wurde, die sie dann nicht töten durften. Witwen erhielten spezielle Fliegenfächer, um den Geist toter Gatten zu verscheuchen.
Karenen in Birma spannten Fäden über Bäche, damit Geister hinüber klettern konnten. Sklaven entleibten sich im Exil, um schneller in der Heimat reinkarnieren zu können. Chinesen bettelten, gekreuzigt zu werden, statt geköpft, um nicht kopflos im Jenseits anzutreten. Australier schnitten erschlagenen Feinden den Daumen ab, damit die sich als Geist nicht mit Schattenspeeren rächen können.
Edward B. Tylor: Die Anfänge der Cultur. Untersuchungen über die Entwicklung der Mythologie, Philosophie, Religion, Kunst und Sitte. Band 1, 495 Seiten, Band 2, 476 Seiten. Leipzig 1873, gebunden. Nachdruck im Olms Verlag, Hildesheim/Zürich/New York 2005,als eine Edition von "Bewahrte Kultur. Reprintprogamm zur Sicherung gefährdeter und seltener Bücher", gefördert vonder KulturStiftung der Länder. 136 Euro.