Heinrich Detering: „An der Nachtwand“ – Möglichkeiten des Glücks

Katastrophen und Alternativen zu den Katastrophen: Tiefe Besorgnis ist der Ton der Stunde in Heinrich Deterings Gedichtband „An der Nachtwand“.
Heinrich Detering, Jahrgang 1959, ist Literaturwissenschaftler an der Universität Göttingen und hat bereits ein kaum überschaubares philologisches Œuvre geschaffen. Er hat über Thomas Mann, Hans Christian Andersen und Bob Dylan geforscht, die Rhetorik der parlamentarischen Rechten kritisch unter die Lupe genommen und zuletzt ein Buch über die Dichterin Annette von Droste-Hülshoff als Vorläuferin ökologischen Denkens verfasst.
Der Thomas-Mann-Interpret
Daneben ist er mit mehreren Gedichtbänden hervorgetreten. Am bekanntesten wurde sein Gedicht „Kilchberg“ aus dem Jahr 2012, in dem er, ohne Thomas Mann zu nennen, die Versagensängste dieses Schriftstellers aufgedeckt und somit in aller Knappheit von dessen Gestalt eine bedeutsame Interpretation geliefert hatte.
Nun kann sich die Leserschaft über einen neuen Gedichtband dieses Autors freuen. Detering unternimmt hier mit Mitteln der Lyrik den Versuch, sich in einem Augenblick der Weltgeschichte, der von endgültiger Verwüstung bedroht ist, geistig zu orientieren. Wie die Maler der Klassischen Moderne knüpft er an die Höhlenmalereien der Eiszeit an, um bei den dortigen Darstellungen von Mensch und Tier nach einem uralten Wissen zu fragen, dessen Frische er spürt. Er muss an die Bombardierung von Mariupol denken, entdeckt aber in Verdun einen Riss in Gehwegplatten, aus dem als Wunder ewigen Friedens und sich behauptender Natur eine Wildente emporsteigt.
Mit der Hinwendung zur Natur nicht genug; ebenso bedarf es literarischer, religiöser wie politischer Rückversicherungen – der Lyriker Wordsworth, der Jesuit und Universalgelehrte Athanasius Kircher sowie der Naturschriftsteller und Demokrat Georg Forster gehören in diesen Zusammenhang.
Das Buch
Heinrich Detering: An der Nachtwand. Gedichte. Wallstein, Göttingen 2023. 95 Seiten, 22 Euro.
Die Tonika-Erfüllung
Bei alledem gibt es aber auch immer wieder „Möglichkeiten des Glücks“, wie der Titel eines der Gedichte lautet. Dort geht es als Alternative zu den Katastrophen um Augenblicke eines Behagens, die für jeden nachvollziehbar und dennoch keinesfalls trivial sind, ruht dieses Lob der Existenz doch auf verborgenem Grund, der erst deren Genuss verbürgt. Die Tonika, heißt es, wird in solchen Augenblicken als Erfüllung einer geheimen Ratio erreicht, mit anderen Worten, der Dreiklang wird erreicht, der auf dem Grundton aufgebaut ist – hat der ehemalige Student der Theologie da nicht ein Lob des sich in die Trinität differenzierenden einigen Gottes versteckt?
„wenn das Gehirn entgleitet beim Einschlafen / wenn der Blick wieder auf den Kirschbaum fällt // wenn die Rechnung aufgeht wenn die Tonika / langsam erreicht ist ohne Fehl und Trugschluss / wenn der Waggon anruckt das Fahrwerk summend // eingezogen wird wenn die Brandung wieder / eiskalt zusammenschlägt über meinem Kopf / und beim Wiederauftauchen ein vertrautes / Gesicht mich ansieht und sagt guten Morgen.“ Ein Gedicht in höchster Vollendung, ideal zum Entziffern im Schulunterricht.
Rilke hatte geschrieben: „Nichts ist mir zu klein und ich lieb es trotzdem / und mal es auf Goldgrund und groß / und halte es hoch und ich weiß nicht wem / löst es die Seele los…“. Detering zeigt mit seinem neuen Buch, dass dieser schöne dichterische Impuls aus dem „Stunden-Buch“ eigentlich noch aktuell sein müsste, aber dass Rilkes Ton der Erbaulichkeit längst nicht mehr am Platz ist, sondern tiefe Besorgnis um den Zustand unserer Welt ebenso wie Lakonie ins Gedicht einziehen muss. Kurzum: wie Lyrik heute zu schreiben sei.