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Wer das Ei hat, hat die Macht

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Fortpflanzung ist auch ohne Orgasmus möglich, die Fische machen es vor.
Fortpflanzung ist auch ohne Orgasmus möglich, die Fische machen es vor. © rtr

„Das Schelling Projekt“, Peter Sloterdijks konsequent undisziplinierter Roman, erörtert die Evolution des weiblichen Orgasmus.

Von Markus Schwering

Warum verlieh die Natur eine so mirakulöse Prämie für etwas, woran, wenn Fortpflanzung sein soll, ohnehin kein Weg vorbeiführt?“ Ja, warum krönt sie den Akt des Gattungserhalts mit – denn darum geht es – dem Orgasmus, diesem „neuronalen Gottesbeweis“, wie es im Buch heißt? Mutmaßlich nehmen die allermeisten Menschen die Existenz des Phänomens, das bei Fischen übrigens fehlt, dankbar bis ehrfürchtig hin, ohne das Warum und Woher erfahren zu wollen. Peter Sloterdijk indes fragt in „Das Schelling Projekt“ genau danach, ohne freilich eine Antwort zu geben. Aber die Frage ist ja schon spektakulär genug. Wie pflegt man heute zu sagen: Gut, dass wir darüber geredet haben.

„Das Schelling Projekt“ ist nicht das, wonach es klingt – eine neue philosophische Abhandlung des wahrscheinlich produktivsten Intellektuellen Deutschlands. Es ist Sloterdijks zweiter Roman nach dem „Zauberbaum“ von 1985, einer Fantasie über die Entstehung der Psychoanalyse. Wobei ihm die Gattungsgrenzen zwischen Essay, Philosophie und Erzählung immer schon geradezu wollüstig zerflossen – ein assoziativ mäandernder Stil mit Hang zur glänzenden Pointe wie zur ästhetisierenden Selbstfeier mag dazu disponieren. So war und ist Sloterdijk weder ein sonderlich disziplinierter Denker noch ein disziplinierter Fabulierer – und dieses Manko zeigt sich auch in diesem Werk.

Aber ist es überhaupt ein Manko? Sicher: In der Konstruktion des Ganzen ächzt es nicht unerheblich, indes verhält es sich bei Sloterdijk umgekehrt wie bei süddeutschen Barockkirchen, in denen die überwältigende Totale die abgeschmackten Details vergessen macht: „Das Schelling Projekt“ erglänzt als Kette wunderbarer Einzelheiten, die der Autor aus prallem Füllhorn dem Leser fast nachlässig hinschenkt. Hier nur diese Probe: „Eine leere Wohnung ist wie eine alte Freundin, die aufgehört hat, dich zu kritisieren.“

Worum aber geht es? Fünf in die Jahre gekommene Wissenschaftler – drei Männer, zwei Frauen – verabreden sich zu einem Forschungsprojekt, für das sie bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) im Herbst 2014 einen Förderantrag stellen. Die stark parodieanfällige Themenformulierung: „Zwischen Biologie und Humanwissenschaften. Zum Problem der Entfaltung luxurierender Sexualität auf dem Weg vom Hominiden-Weibchen zu den Homo-sapiens-Frauen aus evolutionstheoretischer Sicht mit ständiger Rücksicht auf die Naturphilosophie des Deutschen Idealismus“. Damit erklärt sich auch der Buchtitel: Der deutsche Spätidealist Friedrich Wilhelm Joseph Schelling interpretierte Naturgeschichte dialektisch als Entwicklungsgeschichte des Geistes, und in diesem Kontext soll nach dem Willen der fünf die Evolution des weiblichen Orgasmus situiert werden.

Einer heißt Mösenlechzner

Nun ja: Obwohl von Schelling fortan noch einige Male die Rede ist – vollends einsichtig wird diese zweifellos ausgesuchte Verbindung nicht. Und erst recht vermag nicht zu überzeugen, dass die Wissenschaftler angesichts der Zurückweisung durch die DFG enttäuscht sind. Hatten sie im Ernst etwas anderes erwartet? Die Vorbereitung des Antrags, zwei Treffen der Beteiligten in Bonn und Karlsruhe sowie die anschließende Verarbeitung besagter Enttäuschung liefern den dürren Handlungsrahmen, der sich freilich auch nur indirekt erschließt. Denn Sloterdijk hat – nein, keinen Brief-, sondern – einen „Mail-Roman“ geschrieben. Die Beteiligten korrespondieren lebhaft miteinander – meistens mit einem im Cc ausgewiesenen „An alle“-Gestus.

Die Erörterungen zum weiblichen Orgasmus – ob der männlichen Okkupation des Themas von den weiblichen Teilnehmern zunächst halb empört in die Schranken gewiesen, dann aber spielerisch-souverän aufgegriffen – setzen nun eine Bilderflut sondergleichen, einen Tsunami fantastisch ausgreifender Assoziationen und Metaphern, so geistreich-gebildeter wie unverschämter Extemporationen frei. Hier etwa die sexologische Umdeutung von Carl Schmitts politischer Theorie: „Da Ei-Besitz die Macht ist, die am Ende zählt, ist ,die Frau‘ der eigentliche Souverän. Souverän ist, wer über den Zugang ins Innere entscheidet. Das Innen bildet die weiblichen Krondomänen. Ist es nicht vollkommen nachvollziehbar, warum so viele Männer zu Macht-Krüppeln wurden? Sie hatten kaum eine andere Chance, als sich kompensatorisch zu Gebietern über dieses und jenes aufzublähen.“

Schön auch die folgende Burka-Phänomenologie: „Die ganzverhüllte arabische Frau wird auf einen Schlitz reduziert. (...) Wann immer eine Burka-Frau einen Mann ansieht, wird die Vulva des Ostens visuell aktiv.“

Ja, nach innen führt der geheimnisvolle Weg – das wusste schon Novalis. Bei Sloterdijk gerät dieses Zitat anregend mehrdeutig, genauso wie das Bekenntnis der einen Wissenschaftlerin: „Männer, die in der Vertikalen zuhause sind, haben es mir angetan.“ Tatsächlich verhält sich der Roman zu seinem Gegenstand sozusagen performativ. Die Mail-Schreiber, allesamt keine Kinder von Traurigkeit und im Stand guter Durchblutung diverser Körperteile, nicht nur des Gehirns (einer der Mail-Partner heißt Mösenlechzner, dies eine Erfindung, die Sloterdijk diebischen Spaß gemacht haben muss), sichern sich zu, voreinander keine schamhaften Zurückhaltungen zu haben. Und diese Nach-68er-Offenheit hat etwa zur Folge, dass eine Beteiligte relativ ungeniert und detailfreudig berichten kann, wie sich zu ihrem halb-amüsierten Befremden vier rustikal-verschwitzte Möbelpacker im südfranzösischen Domizil über sie hermachten.

Auch schreiten die Wissenschaftler, angeregt durch die Mail-Bekenntnisse, bei ihren persönlichen Zusammenkünften rüstig zur Paarungstat. Was dann wiederum auf High-brow-Niveau verstörend ausführlich erörtert wird. Der habituelle Reflexionszwang schließt die niedere Sphäre der F-Wörter umstandslos mit Transzendentalphilosophie kurz.

Neben allem anderen ist das hochironisch und selbstironisch. Darum wäre es falsch, Sloterdijk einfach als lüsternen Alten auf unvermeidlicher Tour erotique, als Professor Sex oder als Henry-Miller-Imitator abzutun. Eher darf man als Ahnherrn des „Schelling Projekts“ Friedrich Schlegel geltend machen, der 1799 mit der „Lucinde“ einen für damalige Verhältnisse äußerst freizügigen Briefroman vorlegte.

Schlegel ist auch der Erfinder jener „Sym-Poesie“, die bei Sloterdijk zur „Sym-Sexologie“ mutiert. Die in den Stillagen wenig differenzierten Mail-Subjekte werden solchermaßen zu Teilen eines einzigen sich mit sich selbst unterhaltenden Groß-Ichs. Ironisch-romantischen Geistes ist schließlich das Auftauchen des Autors im Text. Der das ganze Projekt ankurbelt, ist nämlich der in Karlsruhe lehrende Philosoph und Ästhetiker „Peer Sloterdijk“. Ja, das „t“ ist wohl „lost in translation“ – oder einfach bei der Konstruktion einer Mail-Adresse vergessen worden. So geht der Verfasser in seinem Roman dann auch wieder ein Stück weit verloren.

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