Hasen züchten wie ein Deutscher

Meister des Erzählfachs: Die Leser der "unerhörten Geschichte" von Miljenko Jergovics Familie stehen seinem Onkel nach zwei, drei Sätzen näher als ihrem eigenen.
Mladen war zwanzig, als er 1943 fiel. Die Mutter hat seinen Tod nicht verwinden können und unbewusst ihre kleine Tochter, den Nachkömmling, dafür verantwortlich gemacht. Es war eine tragische Stellvertreterschaft, wie viele vom Krieg zerrüttete Familien sie kennen. „Das kleine Mädchen besetzte Mladens Platz. Beerbte seine Protokollnummer, sein Schicksal, seinen Odem. Olga hielt das nicht aus, verschloss sich gegen die Tochter, warf sie aus ihrem Leben und Herzen und beinah auch aus unserer Wohnung.“
Das Trauma frisst sich durch die Generationen. Dass sie von Olga, der Mutter, keine Liebe erfährt, gibt Javorka, das kleine Mädchen, als sie erwachsen ist, weiter an ihren 1966 geborenen Sohn Miljenko Jergovic. Als sie 70-jährig stirbt, hadert Miljenko mit der Mutter, wie nur Kinder es tun, die zum sterbenden Elternteil eine problematische Beziehung hatten.
Soweit die Familienpsychologie. Die politische Familiengeschichte hängt nur sehr lose mit ihr zusammen. Mütterlicherseits stammen die Vorfahren von Miljenko Jergovic von sogenannten „kufera?i“ ab. Das sind Menschen, die nach 1878, als Bosnien vom Osmanischen ins Habsburgerreich wechselte, aus allen Teilen der Monarchie „mit einem Koffer“ nach Sarajevo kamen, um dort zu wohnen und das Land zu verwalten. Seiner Abstammung schreibt der Erzähler es zu, dass er sich nie ganz zu Hause, nie ganz bei sich fühlen durfte und gegen den Identitätswahn, der das Land in den 1990ern erfasste, immun blieb.
Ob er damit recht hat? Vielleicht haben die rasenden Identitären unter seinen Zeitgenossen sich ja auch genauso fremd gefühlt und ihre Fremdheit durch nationalen Kult nur überspielt. Aber auf solche Fragen sucht man die Antwort in dem monumentalen Werk vergeblich. Hier wird erzählt, nicht philosophiert.
Zwei, drei treffende Sätze, und der Roman-Onkel steht dem Leser schon näher als der eigene. Miljenko Jergovic ist ein Meister des Erzählfachs. Wer über die eigene Familie wenig weiß, kann sich bei ihm eine zulegen. Nach mehr als 1100 Seiten wächst der Wunsch, dem Autor zu schreiben, sich mit ihm auszutauschen, ihm vielleicht einen Rat zu geben. So unmittelbar, so dicht am Geschehen ist der Erzähler, dass er immer wieder in versunkene Generationen rutscht und sich ein erzählendes „Wir“ erlaubt, wenn es um Menschen geht, die lange vor seiner Geburt gestorben sind.
„Rod“ heißt der Roman auf Kroatisch, das oft mythisierte Wort für Verwandtschaft, Stamm, Sippe, die Gemeinschaft der Lebenden und Verstorbenen einer Familie mit gemeinsamem Stammvater. Wer sich aber hineinziehen lässt in die enge, wirkliche oder fiktive Verwandtschaft, darf sich nicht wohlig geborgen fühlen, sondern verstrickt sich mit dem Autor in einen Komplex von Liebe und Hass, Glück und Tragik. Hinter dem Stolz auf die Abstammung lauert immer die Scham darüber. Auf Begriffe bringen lässt sich das schwer; nur erzählen.
„Stammvater“ der mütterlichen Linie ist Karlo Stubler, ein österreichisch-ungarischer Eisenbahner und Banater Schwabe aus dem heute rumänischen Bozovici – ein „Deutscher“, der aber genau weiß, dass die Menschen in Deutschland ganz anders sind als er. Er spricht Deutsch und züchtet Hasen, wie nur Deutsche es tun oder wie bosnische Nachbarn es von einem Deutschen erwarten.
Weil er einen Eisenbahnerstreik unterstützt, wird Karlo Stubler aus dem schicken Dubrovnik ins orientalische Bosnien versetzt. Seine jüngste Tochter Olga lernt dort den imkernden Eisenbahner Franjo Rejc kennen und lieben, einen Slowenen, der aber Deutsch und nicht Slowenisch spricht. Olga ist stark, Franjo ist schwach, und so setzt Olga sich durch, als die Familie berät, welcher Truppe sich der 19-jährige Sohn Mladen im Zweiten Weltkrieg anschließen soll. Vater Franjo rät zu den Partisanen, Olga rät zur SS – nicht aus irgendwie ideologischen Gründen, sondern weil sie hofft, dass der Junge bei den Deutschen vor lauter Grundausbildung nicht mehr zum Kämpfen kommt. Ein tragischer Irrtum.
Von der Trauer und dem Selbsthass, den der Tod des geliebten Mladen mit sich bringt, erzählt Jergovic noch mit einer gewissen Distanz. Geht es aber um die eigene Mutter, wird es quälend; schonungslos beschreibt er seine Ambivalenz, die kleinen Fluchten von ihrem Krankenbett, den ungerechten, stummen oder halb ausgesprochenen Vorwurf, den die Krebskranke der Welt und besonders ihrem Sohn macht. „Ihr Schmerz ist aus unerfindlichen Gründen meine Schuld. So erlebe ich Mutters Schmerzen. Sobald ich mir einrede, dass sie nur so tut, bin ich nicht mehr schuld.“
Wenn er es nicht mehr aushält, weicht der Erzähler aus in viele Sarajever Geschichten voller wunderbarer, manchmal fantastischer Einfälle und origineller Gedanken, vermischt Fiktion und Realität, führt Figuren vor, heitere, aber meistens tragische, wie er sie schon in seinen Erzählbänden so meisterlich beschrieben hat. Hin und wieder bricht er auch in Tiraden aus – gegen Sarajevo, die Kroaten, Donauschwaben, die literarische Community, alle, die ihm irgendwie Zugehörigkeit versprechen. Aber er landet immer wieder bei der sterbenden Mutter und damit bei sich selbst.
Alles liest sich trefflich, zumal im lebendigen und einfallsreichen Deutsch der Übersetzerin. Manches ist tief durchdacht, nicht alles - aber alles muss raus. Das ist das Grundprinzip dieses Romans. Es klingt wie eine Parole zum Schlussverkauf, einschließlich der Schonungslosigkeit gegen sich selber, wie Warenhäuser sie zu Saisonende gern zur Schau stellen. Als Kunde stöbert man da gern, greift dann aber vielleicht doch lieber zu besserer Konfektionsware – von der man weiß, dass das Haus sie ebenso im Sortiment hat. Und hofft auf die nächste Kollektion.