Harald Welzer: „Nachruf auf mich selbst“ – ein Buch, besser als sein Titel

Der Soziologe Harald Welzer erklärt im „Nachruf auf mich selbst“, warum die Tatsache der individuellen und globalen Endlichkeit dringend in die gesellschaftspolitische Debatte gehört.
Frankfurt am Main - Bei aller Kritik: Besser als sein Titel ist dieses Buch auf jeden Fall, und es fragt sich schon, ob da eher die PR-Abteilung von S. Fischer am Werk gewesen ist als der Autor. Nicht dass Harald Welzer frei von Eitelkeit wäre, das ist er nach eigener Aussage nicht. Aber „Nachruf auf mich selbst“, verbunden mit einem Foto des vielschreibenden Soziologen auf dem Cover – das ist um einige Schichten zu dick aufgetragen und wird Welzers interessantem Ansatz nicht gerecht.
Es stimmt schon, dass es sich um das bisher persönlichste Buch dieses Autors handelt. Der Herzinfarkt, den Welzer im April 2020 erlitt und der ihn fast das Leben gekostet hätte, spielt eine durchaus tragende Rolle. Die beinahe tödliche Situation wird hier mit einer Lebendigkeit beschrieben, die an manchen Stellen an das großartige Buch von Joachim Meyerhoff über den eigenen Schlaganfall erinnert.
Harald Welzer: Appell eines verzweifelten Optimisten
Aber das ist, anders als es der Titel suggeriert, eher Mittel zum Zweck: Das Herz des Autors dient sozusagen als „schlagendes“ Argument für den persönlich-politischen Appell, den sein neues Werk in Wahrheit darstellt. Für einen Aufruf, der – um den kritischen Teil kurz vorwegzunehmen – bei aller Radikalität an der „Systemfrage“ seine Grenze findet.
Positiv betrachtet, handelt es sich um den Appell eines verzweifelten Optimisten, dem „Weltverbrauch“, der unsere Lebens- und Wirtschaftsweise prägt, ein Ende zu machen. Um den Aufruf, der ausgeuferten Verwandlung lebender in tote Materie Alternativen entgegenzustellen. Um die dringende Ermahnung an Individuen wie Politik, konkret zu handeln, statt folgenlos Ziele zu formulieren. „Aufhören“ lautet die Parole, die sich an unzähligen Stellen in dem Buch findet.
Das alles ist nicht besonders neu, auch nicht bei Harald Welzer. Aber erkennbar ist der sehr ehrenwerte Versuch, der Sorge um den überhitzten Planeten noch einmal auf neue Weise Ausdruck zu geben: Der Deutsche Meister der Populärsoziologie schreibt nicht nur im von ihm gewohnten, gut lesbaren Stil. Er traut sich diesmal, seine Gesellschaftsanalyse mit persönlicher Erfahrung und den daraus entstandenen Vorsätzen zu verknüpfen – und das, ohne in allzu übertriebene Selbstdarstellung zu verfallen.
Alle Menschen sollten einen fiktiven Nachruf auf sich selbst schreiben
Natürlich sind die guten Vorsätze, die Welzer am Ende des Buches für sich fasst, ganz offensichtlich als Empfehlung zum Nachahmen gemeint. Im Kern geht es dabei um das, was auch den zahlreichen Aktivitäten des Autors den Obertitel gegeben hat: das Futur zwei. Wie werde ich gelebt haben? Das ist die Leitfrage, die sich im Privaten aus der existenziellen Erfahrung von der Endlichkeit des eigenen Lebens ergibt. Und ins Politische gewendet lautet sie: Wie können wir der Endlichkeit der natürlichen Materie Rechnung tragen und ihrer Vernichtung ein Ende machen?
Die Überschriften zu Welzers Vorsätzen beginnen sämtlich mit den Worten „Ich möchte, dass in meinem Nachruf steht …“. Da folgt er einer Idee der ehemaligen Medienunternehmerin und Verlegerin Christiane zu Salm, die nach einer Lebenskrise begonnen hat, als Sterbehelferin zu arbeiten. Sie empfiehlt nicht nur den Menschen am Lebensende, sondern auch allen anderen, einen fiktiven Nachruf auf sich selbst zu schreiben.
Wer fantasiere, was er sich in einer späteren Würdigung seines Lebens wünsche, stoße womöglich in der Gegenwart auf neue Wege, die das Leben in der verbleibenden Zeit besser machen könnten – so der Ansatz. Das klingt zwar, als entstamme es einem der unzähligen Lebensberatungs-Bücher, die den Menschen statt eines gesellschaftlichen Engagements (das ja sehr befriedigend sein kann) jenseits hindernder Umstände eine unendliche Gestaltbarkeit des eigenen Daseins suggerieren.
Das Buch
Harald Welzer: Nachruf auf mich selbst. S. Fischer, Frankfurt a. Main 2021. 288 Seiten, 22 Euro.
Aber erstens klingt es als persönliches Experiment gar nicht schlecht. Und zweitens wird es zumindest bei Harald Welzer zu einer hochpolitischen Angelegenheit. Das wird endgültig an den Beispielen klar, die Welzer dann anführt: die Sozialistin und Feministin Clara Zetkin, den Hitler-Attentäter Georg Elser und Lutz Beisel, der während des Vietnamkriegs die Behandlung verletzter Kinder in deutschen Krankenhäusern erstritt (und die Hilfsorganisation „terre des hommes“ gründete).
„Nachruf auf mich selbst“: Ein spannender Versuch
Insofern ist „Nachruf auf mich selbst“ ein spannender Versuch, die dringende Notwendigkeit zum Handeln einem relativ breiten Publikum auf neue Weise nahezubringen. Welzer verbindet das im ersten Teil mit Überlegungen zum Umgang mit Sterben und Tod seit der Aufklärung, mit der Säkularisierung und Individualisierung, der eben auch das Lebensende unterliegt. Auch das ist sicher motiviert durch die persönliche Erfahrung des Infarkts. Aber es ist auch ein lehrreicher Blick auf eine Kultur, die das Leben und sein „Aufhören“ aus ihren Denkroutinen ausgrenzt, weil sie im postreligiösen Zeitalter schlicht „kein Konzept für die Tatsache der Endlichkeit“ besitzt – weder der individuellen noch eben auch der globalen.
Welzer fasst diesen persönlich-politischen Ansatz im Buch selbst so zusammen: „Könnten wir nicht, wenn wir jetzt von meinem Fall in die Gesellschaft zurückblenden, viel besser und womöglich auch schöner auf unsere ökologischen Herausforderungen reagieren, wenn wir sie als Endlichkeitsphänomene akzeptieren und endlich Konzepte des Aufhörens entwickeln würden, als immer nur wie in einer immerwährenden Beschwörung der Grenzenlosigkeit weiterzumachen und zu optimieren, was man in Wahrheit aufgeben muss?“
So ist Kapitalismus. In aller Geschmeidigkeit ist er in der Lage, wirtschaftlich zu inkorporieren, was sich ursprünglich kritisch zu ihm verhielt.
Wo es explizit politisch wird, fehlt es dann auch keineswegs an punktueller Radikalität. Immer wieder wird mit guten Argumenten dem Ansatz widersprochen, „dass man konventionelle Produkte ergrünen lässt, was am Ende einen riesigen Stadtgeländewagen mit Hybridantrieb genauso als ,klimafreundlich‘ erscheinen lässt wie ein Kreuzfahrtschiff mit Gasantrieb“. Und: „Dass Produkte wie diese nachhaltig nur dann wären, wenn es sie nicht gäbe, wird übersehen.“
An dieser Stelle tippt Welzer ganz kurz die Systemfrage an: „So ist Kapitalismus. In aller Geschmeidigkeit ist er in der Lage, wirtschaftlich zu inkorporieren, was sich ursprünglich kritisch zu ihm verhielt. Auch Umweltbewusstsein kann zu Eigenschaft von Ware werden.“ Damit ist zwar nahegelegt, dass ein Kapitalismus, der „so ist“, überwunden werden müsste, um dem Klimawandel mit der notwendigen Radikalität zu begegnen. Aber diesen Schluss ausdrücklich zu ziehen – das kann oder will Welzer auch diesmal weder sich selbst noch seinem Publikum zumuten.
Dass Veränderung an den bestehenden Verhältnissen ansetzen und nicht nur mit Zielen, sondern immer auch mit Handlungen beginnen muss, ist unbestritten. „Das geht nicht idealistisch per Bewusstseinsbildung, sondern nur durch eine sich verändernde Praxis selbst.“ Aber der utopische Überschuss, den es braucht, um dem praktischen Handeln immer wieder die Richtung zu weisen, kommt bei Welzer dann doch deutlich zu kurz. Als hätte er nicht selbst so schön formuliert: „Jeder sinnvolle Satz setzt eine zukünftige Welt voraus.“
Harald Welzer: „Nachruf auf mich selbst“ - eine lohnende Lektüre
Offensichtlich hat dem Soziologen Welzer das eigene Studium die Lust genommen, auch gesellschaftliche Strukturen in den Blick zu nehmen. Nicht zu Unrecht karikiert er die Unwucht, die in seinem Fach lange Zeit vorhanden gewesen sein mag: „Wer ordentlich systemtheoretisch denken wollte, für den konnten Menschen in der Welt erst gar nicht vorkommen, nur Systeme, denen sie nicht durchschauend dienen.“ Wer „nur“ auf Systeme schaue, übersehe, „dass es immer auch auf die einzelnen ankommt, die genau jenen Unterschied machen, der die Entwicklungen in eine andere Richtung dreht“.
Heute wird niemand bestreiten, dass Gesellschaftsanalyse „auch auf die einzelnen“ zu schauen hat. Aber das heißt keineswegs, dass es richtig wäre, über die systemischen Wände zu schweigen, an denen sich „die einzelnen“ die Köpfe einrennen werden, wenn sie sich nicht wappnen mit dem notwendigen Wissen darüber, wer diese Wände baut und woraus sie bestehen.
Das scheint der blinde Fleck des Welzer’schen Schreibens zu sein und zu bleiben. Den „Nachruf auf mich selbst“ zu lesen, lohnt sich trotzdem. Denn nicht nur, was drinsteht, regt zum Weiterdenken an. Sondern sogar auch das, was fehlt. (Stephan Hebel)