Hans-Ulrich Jörges: „Stille Invasion“ – Als Schlägertrupps der Stasi über die Gleise einmarschierten

Ein unterschlagenes Stück deutsch-deutscher Geschichte: Hans-Ulrich Jörges’ Tatsachenroman „Stille Invasion“.
Zu Beginn der achtziger Jahre war die Berliner S-Bahn zum Gegenstand der urbanen Folklore geworden – zumindest in West-Berlin. Popstars platzierten sich auf die Holzbänke der Fahrgastwaggons, in dezentem Schwarz-Weiß gehalten, ergaben die vollführten Posen Vorlagen für Plattencover und andere Werbematerialien. Der Inselstatus der Stadt verhieß eine geheimnisvolle Patina und lenkte den Blick auf den Alltag von Menschen, die seit jeher von hier nach da streben. Dass der Verkehrsbetrieb auf Schienen seitens der DDR von einem Unternehmen namens Reichsbahn unterhalten wurde, steigerte das Gefühl eines gelebten Anachronismus, in dem die politischen Organisationsformen den Entwicklungen der Zeitläufte kaum schrittzuhalten vermochten.
So jedenfalls nahm ich es als junger Mensch wahr, der 1980 als Student nach West-Berlin gekommen war und bald mit den Nachrichten vom Streik der Reichsbahner im Westen der Stadt gegen ihren Arbeitgeber aus dem Osten konfrontiert wurde. Als alles vorbei war, bot die Reichsbahn im Westen nur noch einen eingeschränkten S-Bahn-Verkehr an, Strecken wie die Ringbahn, die Wannseebahn und die Verbindung nach Spandau wurden in einen mehrjährigen Dornröschenschlaf geschickt.
Von der Politik geduldet
Um das Streikgeschehen herum aber hatte sich ein staatspolitisches Drama in mehreren Akten aus Diplomatie, Camouflage und Militärposse abgespielt, das John le Carré, der Meister des Spionage-Thrillers, sich nicht auszudenken getraut hätte. Unter weitgehender Duldung aller beteiligten staatlichen und politischen Instanzen, so erzählt es nun der Journalist Hans-Ulrich Jörges in seinem Tatsachenroman „Stille Invasion“, marschierten Schlägertrupps der Stasi im September 1980 von Ost nach West über die Bahngleise ein, um lautlos, aber effektvoll einen Streik zu zerschlagen, der nicht nur das städtische Verkehrssystem beeinträchtigt, sondern auch die internationalen Beziehungen empfindlich tangiert hatte.
Der Erzähler lässt darin den jungen Reuters-Korrespondenten Valentin Freytag als Protagonisten der Handlung reüssieren. Hans-Ulrich Jörges selbst hatte zu Beginn der achtziger Jahre für die internationale Nachrichtenagentur in Berlin gearbeitet, und in dieser Funktion war er noch vor Beginn der Arbeitsniederlegungen von den Streikaktivisten ins Vertrauen gezogen worden, um eine größere Öffentlichkeit für das Geschehen herzustellen. Das gelang auch, verborgen blieben indes die komplex verzweigten Interessen der jeweiligen Akteure vor dem Hintergrund einer erheblich in Bewegung geratenen Kulisse des Kalten Krieges.
Das Buch:
Hans-Ulrich Jörges: Stille Invasion. Roman. be.bra, Berlin 2021. 224 S., 22 Euro.
Der „polnische Bazillus“
Die DDR war bemüht, die von einer trotzkistischen Revolutionsgarde angeleiteten Begehrlichkeiten der rund 3000 in West-Berlin tätigen Bediensteten der Reichsbahn kleinzuhalten, weil sie das „polnische Bazillus“ fürchtete, das mögliche Aufkeimen einer landesweiten Solidarität mit der polnischen Gewerkschaftsbewegung Solidarnosc. Der vom Regierenden Bürgermeister Dietrich Stobbe (SPD) angeführte West-Berliner Senat wollte vermeiden, fortan Subventionszahlungen für den maroden S-Bahn-Betrieb leisten zu müssen, und die alliierten Briten, Franzosen, Russen und Amerikaner mochten wegen Fragen des öffentlichen Nahverkehrs nicht am Status quo des Viermächteabkommens rütteln.
Hans-Ulrich Jörges vermag auf plastische, gut recherchierte Weise darzustellen, wie aus kleinlichen Berliner Näheverhältnissen ein großes Stück Weltgeschichte hätte werden können, das dann aber in Form einer nächtlichen Räuberpistole zur klandestinen Kommandosache geriet. Alle wussten von der Invasion und behielten für sich, was lieber nicht an die Öffentlichkeit sollte.
Den ganzen Umfang der Ereignisse, in die Jörges selbst verwickelt war, hat er in mühsamen Aktenrecherchen erst Jahrzehnte später zusammengetragen. Bei dem Versuch, die überaus packende Geschichte zu verstehen, fragt sich der staunende Leser jedoch, warum die Recherche den Umweg über die oft hölzern-unbeholfen wirkende Form des Romans nehmen musste.
Das Ausrollen der angehäuften Fakten scheint dem Autor wichtiger als die ambitionierte literarische Präsentation. Neben Personen der Zeitgeschichte wie Stasi-Chef Erich Mielke und Bundeskanzler Helmut Schmidt treten graue Agenten ebenso auf wie eine Ärztin, die den jungen Journalisten in eine sogenannte Honigfalle zu locken versucht. Das alles wird dann aber in dem etwas über 200 Seiten kurzen Roman mehr angedeutet als auserzählt.
Die Geschichte von der stillen Invasion aber ist ein Stück Zeitgeschichte, das viel verrät über die absurde Gestalt des Kalten Krieges, der bei aller skrupellosen Brutalität mitunter hemdsärmelig und naiv daherkam.