Hans Joachim Schädlich: „Das Tier, das man Mensch nennt“ – Leporello des Schreckens

„Das Tier, das man Mensch nennt“: Hans Joachim Schädlich erzählt vom Rechtsbruch als Lebensform.
Mit expressiver Lakonie, doch nicht kalt, eher mit belegter Zunge, erzählt Hans Joachim Schädlich. In der Zeitlosigkeit von Rechtsbruch und Gewalt entrollt er ein Leporello des Schreckens. Aus übersehenen Zettelkästen der Pandora holt er liegengelassenes Wissen vom Verbrechen als Lebensform bis zum Verbrechen als Staatsfaçon. Es gibt allenfalls Rangunterschiede. Dieses Erzählen in Kurzprosa und Miszellen bebt. „Das Tier, das man Mensch nennt“, ein Briefzitat von Jonathan Swift, wählt Schädlich als Titel. Es gab eine Wahl. Nietzsche klingt nicht viel anders: „Der Mensch ist ein nicht festgestelltes Tier.“ Oder George Steiner: „Der Mensch ist ein Tier, das spricht.“
Nichts gewöhnlicher als das Morden der Cäsaren. Mörder schlechthin und jederzeit. Stalin befiehlt kurz nach Holocaust und letztem Weltkrieg seinem Büttel Berija, die „Schriftstellerjuden“ zu vernichten. Berija zeigt eine Liste mit 13 Namen, darunter die jiddischen Dichter Bergelson, Feffer, Hofstein, Kwitko und Markisch, alle gebürtige Ukrainer. „Eine erste Charge.“ In der „Nacht der Poeten“ werden 1952 dreizehn Intellektuelle, vornehmlich aus dem Jüdischen Antifaschistischen Komitee, erschossen. Der Terror ist immer noch die Linie.
Wie schon bei Daniil Charms. Kurz bevor sich die Belagerung um Leningrad 1941 schließt, wird der Dichter verhaftet und stirbt, 37-jährig, in der „Psychiatrie“ des Kerkers. Aber hier zeigt sich ein heller russischer Geist: Der Mathematiker Jakov Druskin rettet den Nachlass.
Einen Nachlass von Nikolai Krestinski, Bolschewik der ersten Stunde, gibt es allenfalls beim ewigen Geheimdienst. Krestinski, mehrfacher Minister, Botschafter in Berlin, wird 1938 auf dem Scheitelpunkt des Terrors hingerichtet, wie andere aus Lenins alter Garde auch. In „Geständnis II“ erinnert Schädlich an den Mut, sich als nicht schuldig zu bekennen. Nach einer Folternacht folgt das Schuldbekenntnis.
Ein Geschichtssplitter von Ultimatum und verweigerter Unterwerfung, nach Plutarch erzählt, tritt in unsere Kriegsgegenwart: Philipp II., König von Makedonien, bedroht Sparta: „Wenn ich euch besiegt habe, brennen eure Häuser, eure Frauen werden Witwen.“ Die Antwort der Bedrohten: „Wenn.“
Ein Zug von Deutlichkeit, mit dem Fallwissen an historischer Bruchkante gesammelt, haben die kaum zu zähmende Verknüpfungen in Schädlichs „Report“ über Mohammed Amin al-Husseini, Großmufti von Jerusalem. Husseini will nach 1933 mit den Nazis „gemeinsame Feinde bekämpfen: die Juden, die Engländer und den Bolschewismus“. Von 1941 bis Kriegsende lebt er in Deutschland, kennt das Ausmaß des Holocaust, verbreitet NS-Propaganda im arabischen Raum, befördert die Aufstellung einer muslimischen SS-Division. Alles ebenso bekannt, wie verdrängt.
Das Buch
Hans Joachim Schädlich: Das Tier, das man Mensch nennt. Rowohlt Verlag, Hamburg 2023. 160 S., 23 Euro.
Wie als Nachtrag zu seinem Roman „Anders“, lässt Schädlich zwei weitere Täter in ihrer abgründigen Camouflage auftreten. „Doppelt“ fasst mit Herbert Scurla alias Karl Leutner einen NS-Aktivisten, der in der DDR mit seiner Serie „Deutsche, auf die wir stolz sind“ seine Gesinnungsvielseitigkeit beweisen kann. Ein DDR-Verdienstorden krönt sein Doppelleben. Noch ganz anderes Täter-Format verbirgt Claus Peter Volkmann, als Kreishauptmann maßgeblich an der Deportation von Juden in Polen und der Ukraine beteiligt. Nach dem Krieg taucht er als linksliberaler Journalist alias Peter Grubbe und Beirat der „Gesellschaft für bedrohte Völker“ wieder auf. In Schädlichs Skizze „Monsieur Tara“ wird er von einem ukrainischen Emigranten in Frankreich erkannt: „Jeder konnte sehen, dass er Juden ins Gesicht schlug.“
Schmerzliche Deutlichkeit trägt auch die Geschichte von Bina Tenenblat. Das Massaker bei der ukrainischen Stadt Kamanez-Podolski überlebt sie 1941 als 13-Jährige nur, weil sie glaubhaft machen kann, keine Jüdin zu sein. Ein anderer Abgrund zeigt sich in „Blaue Augen, blondes Haar“. Die kinderlose Frau eines KZ-Kommandanten besucht ihren Mann am „Arbeitsplatz“. Als sie unter den internierten Kindern ein blondes Mädchen sieht, nicht jüdisch, sondern polnisch, möchte sie es „mitnehmen“. Eine andere „Adoption“ holt Schädlich mit „Abzweigung“ ans Licht. Stasi-Chef Mielke lässt in seiner Allmacht einen neugeborenen Zwilling einer Gefangenen „abzweigen“, damit der Frau einer seiner Generäle der Kinderwunsch erfüllt werden kann.
Und immer wieder werden die Gefahren des aufziehenden Faschismus verkannt. Der Zeichner Walter Trier warnt im Freundeskreis vergeblich. „Warten wir doch erstmal ab.“ Die Satiriker Gustav Hochstetter und Alexander Moszkowski, der Arzt Georg Zehden werden mit ihren Familien ermordet. Auch in den Abendgesellschaften des Kudamm-Arztes Dr. Haustein ist der Antisemitismus ein Thema, aber das Paar Feuchtwanger verkündet: „Die Rechten kommen und gehen.“ Drei Jahre später finden Feuchtwangers Exil in Sanary-sur-Mer. Der Maler Christian Schad leitet in Aschaffenburg eine Brauerei und Dr. Haustein hat sich nach SA-Haft das Leben genommen.
Auch die Unauffälligen werden als Täter entlarvt, selbst wenn sie aus dem Nichts treten. Der kannibalische Fritz Haarmann in „Kurzfassung“ ebenso, wie in „So oder ähnlich“ sein sowjetisches Gegenbild. Mit dazwischen gesetzten historischen Anekdoten schafft Schädlich Entlastung vom Absoluten. So verstreitet sich Beethoven mit seinem Gönner Fürst Lichnowsky. Oder Karl Ditters reist mit Gluck nach Italien.
Schädlich, Jahrgang 1935, bleibt rigoros den Lebenslügen auf der Spur, sucht den flagranten Unterschied von Wirklichkeit und Wahrheit. Sein Stoff ist so unbegrenzt wie sein eingreifendes Schreiben. Über die Nähe moralischer Extreme schreibt er nicht voraussetzungslos. Nichts wird dabei relativiert, nicht zuletzt durch die Platzierung der Erzählstücke. In fragmentarischer Strenge Weltgeschichte in wenigen Worten. Und sie wiederholt sich unendlich. Was für eine Klarheit in Schädlichs nüchternen und humanen Realismus. Ungewöhnlich lesenswert.