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Von guter und böser Bürokratie

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Von: Claus-Jürgen Göpfert

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Im so genannten Verkehrszentralregister des Kraftfahrt-Bundesamtes.
Im so genannten Verkehrszentralregister des Kraftfahrt-Bundesamtes. © © epd-bild / Volkmar Schulz/Key

Der eine weiß, wie viel Lebenszeit der Mensch mit dem Warten an Ampeln verbringt. Der andere weiß, dass es ohne Staat trotzdem nicht geht. Ein Frankfurter Streitgespräch zwischen David Graeber und Axel Honneth.

An diesem Abend erweist sich Frankfurt eindrucksvoll als Hauptstadt der Kritischen Theorie. Mehr als 350 Menschen drängen sich in der Zentralbibliothek in der Innenstadt. Der US-Amerikaner David Graeber, der wichtigste Theoretiker und zugleich Aktivist der Occupy-Bewegung, trifft auf den Sozialphilosophen Axel Honneth, der seit 15 Jahren das Institut für Sozialforschung führt. Es ist das jüngste Buch Graebers, das den äußeren Anlass liefert für einen fast zweistündigen spannenden Schlagabtausch zwischen den beiden.

„Bürokratie – die Utopie der Regeln“ entwirft ein Bild von unserer Gesellschaft im Klammergriff der Bürokraten. Bürokratie und Kapitalismus haben sich in Graebers Augen verbündet, um die Welt in den Abgrund zu reißen. „Wir sind mehr und mehr von Bürokratie umgeben, aber wir sehen sie nicht mehr.“

Immer stärker fräßen sich Formulare und sinnlose Vorgänge in das Leben der Menschen: „Die Amerikaner warten im Durchschnitt sechs Monate ihres Lebens darauf, dass die Farbe von Ampeln wechselt.“ Sinnigerweise habe gerade der Neoliberalismus, der die völlige Freiheit von Regeln predige, zu neuer Bürokratie geführt, urteilt der Ethnologe, der an der London School of Economics and Political Science lehrt.

Wofür man den Staat braucht

Auch Honneth erkennt an: „Wir haben die Bürokratie aus den Augen verloren, wir müssen ihre Ausbreitung ernst nehmen und die Gründe dafür untersuchen.“ Doch er unterscheidet zwischen schlechter und besserer Bürokratie. So sei etwa das staatliche Wohlfahrtssystem für bedürftige Menschen absolut notwendig. Der Sozialphilosoph blendet zurück auf die sozialen Reformen „im roten Wien der 20er und 30er Jahre“ und den sozialen Wohnungsbau der 20er Jahre in Frankfurt.

Vor allem aber ist eines für den Erben von Adorno und Horkheimer unabdingbar: Das Gewaltmonopol des Staates. Geradezu rührend wirkt das Bekenntnis des 66-Jährigen: „Ich bin definitiv kein Anarchist!“ Das Plädoyer des frühen Anarchismus, dass ein Gemeinwesen ohne Organisation und physische Gewalt auskomme, hält er für „eine illusionäre Betrachtungsweise“. An dieser Stelle bleibt Graebers Entgegnung matt. Er sei „nicht völlig blind für die Tatsache“, dass es auch nützliche Bürokratie gebe, sagt der 55-Jährige.

Doch er beharrt darauf, dass menschliches Zusammenleben „auch ohne Staat“ möglich sei. Honneth plädiert dafür, Bürokratie nicht einfach hinzunehmen, sondern aktiv zu bekämpfen. Etwa die Auswüchse des deutschen Steuersystems, das ihm absurd erscheint. Die Bürgerinnen und Bürger besäßen die Kraft, „unsere Regierung“ sogar zur Abschaffung von Bürokratie zu zwingen.

Es ist dieser Optimismus, den Honneth auch in seinem jüngsten Buch ?Die Idee des Sozialismus â?" Versuch einer Aktualisierung? demonstriert. Das Modell einer solidarischen Gesellschaft ist für ihn nicht tot. Und die Kraft zur Veränderung wirkt an diesem Abend stärker als bürokratische Beharrung.

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