Ich wollte im vorigen Jahr ein paar Wochen in Isfahan verbringen, der Heimatstadt meiner Eltern. Die normale Landroute, die wir in meiner Kindheit öfters im Sommer gefahren sind, wäre über den Balkan und die Türkei gegangen. Aber da war ich ja tatsächlich erst kurz vorher auf Reportagereise unterwegs gewesen. Bei einem Blick auf die Landkarte habe ich gedacht: Die nördliche Route ist ja viel interessanter. Sie führt einmal quer durch das 20. Jahrhundert mit seinen Katastrophen – bis hin zu Tschernobyl, den Tschetschenien-Kriegen und den vielen lokalen Konflikten im Kaukasus, von denen kaum einer weiß.
Eine Zeitreise also?
Die Vergangenheit, habe ich in Osteuropa festgestellt, wirkt umso stärker nach, je weniger über sie geredet wird. In der Sowjetunion und manchen Nachfolgestaaten war vieles tabuisiert – von den Verbrechen Stalins bis zum GAU von Tschernobyl. Nicht einmal der Völkermord an den Juden wurde eigentlich thematisiert. Der Opfer wurden stets als sowjetische Bürger, nicht als Juden gedacht, obwohl die meisten doch dezidiert als Juden umgebracht worden waren. Wenn man über Traumata nicht frei öffentlich sprechen darf, dann graben sie sich ein, dann bleiben es Privatgeschichten, dann wirken sie erst recht ungut nach. Mit all den Folgen für die Gesellschaften in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion mit ihren multi-ethnischen und -religiösen Spannungen.
Woran denken Sie?
Ein Beispiel, das unmittelbar einleuchtet: Weshalb haben sich die baltischen Staaten nach 1989 sofort gen Westen ausgerichtet, während das benachbarte Weißrussland auf Moskau orientiert blieb? Das kann man nur aus der Geschichte heraus verstehen: Für die baltischen Nationen kam die Gefahr historisch von Russland, im 20. Jahrhundert von der Roten Armee, die so brutal agierte, dass der Einmarsch der Wehrmacht zunächst als Befreiung erlebt wurde – so unglaublich das klingt. Weißrussland hingegen, obwohl geografisch auf der gleichen Linie, ist gleichsam traumatisiert von den Gräueln der deutschen Besatzung. Nirgends haben Wehrmacht und SS so gewütet wie in Weißrussland, mit der Politik der entvölkerten Landstriche und der verbrannten Erde. So führt das kollektive historische Gedächtnis zu gegenläufigen Entwicklungen in der Gegenwart.
Das kennen West- und Ostdeutsche auch, oder?
Stimmt. Aber ich glaube, gerade in Westdeutschland haben wir uns vieles nicht klar gemacht. Zum Beispiel, was die Westbindung der Bundesrepublik unter Konrad Adenauer für die Bundesrepublik und die Mentalität ihrer Bürger bedeutet hat. Noch für Thomas Mann war es eine ausgemachte Sache, dass Deutschland nicht etwa ein Teil Westeuropas ist, sondern Mitteleuropas. Mann hat geradezu danach gesucht, was die Deutschen von den Westeuropäern unterscheidet. Nach dem Holocaust hat sich die Bundesrepublik mit der Westbindung neu gefunden. Dem Rheinländer Adenauer fiel sie wahrscheinlich vom Naturell her ohnehin leichter als eine Ausrichtung auf den „preußischen Osten“. Es war dann zwar sehr klug von den Amerikanern, diese Orientierung zu fördern und zu stabilisieren…
Aber?
Eine Folge davon war auch, dass wir die Orte des Holocausts, die realen Stätten des Schreckens aus unserem topografischen Bewusstsein getilgt haben. NS-Terror und Völkermord wurden zur Information. Wir wussten vielleicht mehr vom Holocaust als viele Menschen in den Ländern Osteuropas. Aber wir kannten die Stätten nicht mehr: Städte, in denen 40 Prozent Juden gelebt hatten. Wo Gunter Demnigs Stolpersteine, die an ehemalige jüdische Bewohner erinnern, die Straßen zu goldbronzenen Spiegelflächen machen würden.
Sie meinen, es fehlte die sinnliche Erfahrung?
Ja. Auf meiner Reise ist sie mir auf Schritt und Tritt begegnet. In einer Stadt wie Breslau, wo nach 1945 kein einziger Bewohner mehr da war, der dort schon vor dem Krieg gelebt hätte; in Weißrussland, wo an den Straßenrändern die Hinweistafeln auf Vernichtungslager und Soldatenfriedhöfe so dicht stehen, wie hier bei uns die Werbetafeln für Freizeitparks und Outlets. All das gab es in Westdeutschland nicht. Wir haben ja noch nicht einmal die Geschichten der Vertriebenen hören wollen. Die wurden beiseitegeschoben oder in die reaktionäre Ecke gestellt. Und der Osten des eigenen Landes war uns Linken oder Grün-Alternativen doch so was von egal!
Es ging aber doch kaum anders: Der Blick nach Osten wurde von der deutsch-deutschen Grenze aufgehalten. Die geopolitische Achse war deutlich verschoben und lief mitten durch Deutschland.
Ich meine das ja auch nicht vorwurfsvoll oder als Zeugnisvergabe: „Adenauer – vier minus“. Es ist halt so passiert. Und Westdeutschland war gewiss der erfolgreichere Teil des geteilten Deutschlands, der seinen Bürgern ungleich größere Freiheit gebracht hat. Aber in gewisser Hinsicht ging damit eben auch ein Verlust einher, und auch den habe ich beobachtet auf meiner Reise. Wir haben es uns zu leicht gemacht mit all den Leiden des Krieges. In Osteuropa hat fast jede Familie eine Katastrophengeschichte. Da sprechen Sie die Menschen an, irgendwo in einem Dorf, und schon bricht es aus ihnen heraus. Aber für unser Bewusstsein ist das am Eisernen Vorhang hängen geblieben, und wir im Westen waren die Lucky Ones, die überhaupt die Zeit hatten, sich der Entfaltung ihrer Individualität und meinetwegen noch dem Elend in der Dritten Welt zu widmen. Selbst von Managua, der Hauptstadt von Nicaragua, wussten wir mehr als von Dresden.
Hat sich das nach 1989 nicht geändert?
Die Möglichkeit bestand und besteht. Aber seltsam! Wir reisen immer noch nicht in den Osten, nicht nach Ostdeutschland, noch weniger nach Osteuropa. Dabei sind das alles Nachbarn. Wir reden über sie, und das oft ziemlich arrogant, aber wir besuchen sie nicht. Dadurch entgeht uns wieder vieles – auch vieles Positive. Was zum Beispiel im Baltikum los ist an gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Dynamik, das bekommt man in Warschau mit. Aber nicht in Weimar, Wuppertal oder Wiesbaden.
Sie selbst sind auch in Regionen und Städten unterwegs gewesen, wo Sie nie zuvor waren. Welches war die spannendste?
Spontane Antwort? Dann Grosny. Grosny ist die große Unbekannte. Die Stadt war am Ende des zweiten Tschetschenien-Feldzugs, des „Inthronisierungskriegs“ von Wladimir Putin, laut UN die am meisten zerstörte Stadt der Welt. Wer weiß das schon? Über Grosny sind nicht nur die beiden jüngsten Tschetschenien-Kriege hinweggegangen, sondern zuvor schon die unglaublich brutale Unterjochung des Kaukasus durch das russische Zarenreich. Im Vergleich damit war der Algerien-Feldzug der Franzosen ein Scharmützel. Der russische Name der Stadt Wladikaukas bedeutet übersetzt: Beherrsche den Kaukasus. Ein kriegerischer Imperativ als Namensgeber – davon waren die Eroberer ebenso besetzt wie die Eroberten. Über Generationen hinweg. Schon Leo Tolstoi schilderte den Hass der Tschetschenen und der kaukasischen Völker auf die Russen, aus Gründen, die Tolstoi verständlich macht. Es hat eben nicht alles erst unter Putin begonnen. Die Gräuel der Tschetschenien-Kriege sind vielmehr die Folge des Grauens aus den 15 Kriegen vorher. Und heute habe ich überall auf den Straßen Putin-Bilder gesehen. Das heißt: Der Zerstörer muss jetzt auch noch angehimmelt werden. Beherrsche den Kaukasus!
In vielen Ihrer Reden und Essays sind Sie als leidenschaftlicher Europäer aufgetreten. Wie bringen Sie das überein mit der Europa-Skepsis vieler Osteuropäer?
Zumindest habe ich verstanden, warum nicht allen Menschen Europa als eine nur brillante Idee erscheint – und ich habe, aus der Mitte Europas kommend, wahrgenommen, wie anders Europa an seinen Rändern von den Menschen dort wahrgenommen wird.
Nämlich?
Als Bedrohung ihrer Eigenheiten. Als müssten sie für Wohlstand und soziale Segnungen, die Europa verheißt, mit allem bezahlen, was ihnen vertraut ist, was sie für sich beanspruchen und worin sie sich von anderen unterscheiden. Natürlich gibt es eine Sehnsucht vieler Menschen nach Eigenständigkeit, nachdem sie den sowjetischen Deckel der Gleichmacherei losgeworden sind. Sie möchten ihre eigene Sprache sprechen dürfen, ihre Religion praktizieren, ihre Kultur ausleben, ihre Bräuche pflegen dürfen. Und sie fürchten, dass Europa alles nivelliert, gewachsene Kulturen zerstört. Das gilt besonders für die Älteren. Die Jungen haben ja wenigstens noch eine Perspektive. Sie sehen, was sie durch Europa gewinnen: Sie können reisen, sie haben Austausch, die Aussicht auf Wohlstand. Aber zu den Alten kommt das Neue nicht mehr. Sie sehen nur den Verlust.
Welche Lehre ziehen Sie daraus?
Es widerspricht zwar einem Kernanliegen Europas, aber es gibt eine eigene Qualität von Grenzen.
Eine Qualität von Grenzen?
Sehen Sie, Sie reagieren spontan abwehrend! Wir sind es eben gewohnt, Grenzen für etwas Schlimmes und Störendes zu halten. Aber eine Grenze bedeutet ja auch, dass es drüben, auf der anderen Seite der Grenze, nicht so ist wie hier. Und das ist doch eigentlich etwas ganz Schönes. Es wäre schade, wenn es überall genauso wäre wie hier. Der entscheidende Punkt liegt also nicht darin, dass Grenzen Unterschiede markieren, sondern dass sie durchlässig sind. Das aber war jahrzehntelang nicht der Fall.
Und ist es bis heute vielerorts nicht – weder mental noch politisch. Im Gegenteil. Es werden wieder Kriege um territoriale Grenzen geführt.
Deshalb habe ich auf meiner Reise mindestens so viele gute Argumente gegen den Nationalstaat gefunden wie dafür. Der Kaukasus ist das beste Beispiel – mit seinen vielen Kriegen zwischen Völkern, von denen wir bestenfalls die Namen kennen: die Osseten, die Abchasen, die Dagestaner, Tschetschenen und wie sie alle heißen. Über 50 Völker mit je eigener Sprache, Kultur, Religion, Sitten und Gebräuchen leben da auf einem Gebiet, das geschätzt kleiner ist als Deutschland. Und sie leben nicht etwa getrennt voneinander, die einen im einen Tal, die anderen im nächsten, sondern direkt neben- und miteinander. In einer solchen Situation war der aufkommende Nationalismus nach dem Ende der Sowjetunion das Gefährlichste, was passieren konnte. Was macht ein Staat wie Georgien, der auf dem Konzept „ein Volk auf einem Territorium“ basiert, mit all den anderen Völkern? Was macht Armenien mit den Hunderttausenden Aserbaidschanern, die in Armenien lebten? Was macht Aserbaidschan mit seiner armenischen Minderheit? Oder was passiert in Berg Karabach mit seinem Gemisch beider Völker, wenn beide plötzlich ihr eigenes Land haben wollen?
Welche Bedeutung hat da eigentlich der Faktor Religion?
Da kann man die verrücktesten Überkreuzungen erleben. Ausgerechnet das Land mit der ältesten christlichen Staatskirche, Armenien, pflegt heute eine Allianz mit der Islamischen Republik Iran. Die – sehr religiösen – christlichen Armenier sind mit dem – sehr religiösen – schiitischen Iran verbündet gegen das ebenfalls schiitische, aber eher säkulare Aserbaidschan, das es politisch mit der Türkei hält, weil die Türkei wiederum Gegnerin der Armenier ist. Kurz: Die vermeintlich klaren Konfrontationen werden umso unübersichtlicher und verworrener, je näher man ihnen kommt.
Dann suggeriert der Titel ihres Reisetagebuchs eine falsche Klarheit? Entlang den Gräben.
Das Bildwort ist bewusst vieldeutig gewählt. Mit Gräben sind natürlich – sehr konkret – die Schützengräben gemeint, die es immer noch gibt, die Schützengräben gegenwärtiger und vergangener Kriege. Gemeint sind auch die Gruben, die für die Leichen der Abertausenden Erschossenen ausgehoben wurden, überall in den Wäldern und den Weiten Osteuropas. Viele Gräben in Europa sind Gräber, Massengräber. Es geht aber auch um die Gräben in den Köpfen, mentale Gräben zwischen Nachbarn, für die man gar nicht weit fahren muss.
Wo sind Sie ihnen zuerst begegnet?
Gleich zu Beginn meiner Reise, in Schwerin. Dort habe ich eine Sonntagsschule besucht, wo freiwillige Helfer sich um Flüchtlinge kümmern. Die sind freundlich, fühlen sich wohl, sind dankbar, dass sie hier sein dürfen. Danach bin ich in einer AfD-Versammlung gewesen und dort genauso freundlich empfangen worden. Man versuchte, sich zu erklären, bei Kaffee und Kuchen ins Gespräch zu kommen. Mit mir, dem Auswärtigen, dem Besucher. Aber nicht mit den jeweils anderen vor Ort. Über die Gräben hinweg gibt es kein Gespräch. Kein Flüchtlingshelfer hat jemals mit einem AfD-Funktionär gesprochen, keiner auf der AfD-Versammlung jemals mit einem aus der zwei Kilometer entfernten Sonntagsschule für syrische Flüchtlinge. Es war sogar, dass mich Helfer abends anriefen und wissen wollten: „Sagen Sie mal, wie war das denn so bei der AfD?“
Und was haben Sie geantwortet?
„Gehen Sie doch einfach mal hin!“ Was ich damit nur sagen will: Da driftet etwas gefährlich auseinander, die Gräben werden tiefer und breiter. Und sie folgen keinen geografischen oder nationalen Grenzen, sondern laufen kreuz und quer durch Völker, Gesellschaften und sogar durch die Seelenlandschaften der Einzelnen.
Am Ende Ihrer Reise sind Sie dann im iranischen Isfahan, in der Stadt Ihrer Kindheitserinnerungen. Täuscht es, oder wird auch Ihr Ton kindlicher, zärtlicher, manchmal fast schwärmerisch?
Natürlich ist das so. Mit Isfahan bin ich vertraut wie mit einem alten Freund. Das ist anders als mit Menschen, die man das erste Mal trifft. Da ist man allerdings auch nicht so höflich.
Was bleibt am Ende von Ihrer Hoffnung für Europa?
Dass es endlich den Schwung nutzt, den die Wahl Emmanuel Macrons zum französischen Präsidenten gebracht hat. Dass es endlich wieder Begeisterung für ein Europa weckt, das den Menschen einleuchtet, ihnen nicht nur als Bürokratie, als ein Apparat von Behörden begegnet. Und dass Europa als gemeinsames Haus begriffen wird, in dem nicht die eine Etage immer reicher, die andere immer ärmer wird.
Aber die Unterschiede in Europa…
… Sind groß, ja! Zu groß vielleicht, um immer alles gemeinsam zu machen. Vielleicht braucht es die Wiederbelebung der alten Idee von einem Europa verschiedener Geschwindigkeiten. Das würde auch eine weitere Vergrößerung ermöglichen, wie sie jetzt mit Blick auf einige Balkanländer erwogen wird. Die Leute, denen die Aufnahme Bulgariens oder Rumäniens zu teuer war, müssten auch einmal vorrechnen, was es Europa gekostet hätte, sie nicht aufzunehmen. Denken Sie an die Ukraine, die außen vor blieb und inzwischen ein Land im Krieg ist. Oder denken Sie an die Türkei! Wir sehen doch jetzt, wohin sie steuert – auch weil Europa sie hingehalten und nicht hereingelassen hat. So hat alles seinen Preis, die Integration wie das Aussperren.
Aber Sie wollen sagen, Europa könne nicht um den Preis weiterentwickelt werden, dass immer der Langsamste das Tempo vorgibt?
Ich denke heute, dass es mehr Flexibilität braucht – mehr Geschmeidigkeit, mehr Rücksicht auf gewachsene Unterschiede. Franzosen und Deutsche können vom Gefühl her viel leichter nationale Kompetenzen an die EU abgeben als beispielsweise die Polen, die 1989 überhaupt erst wieder ihre nationale Souveränität erlangt haben. Früher hätte ich in Martin-Schulz-Manier gesagt: „Entweder – oder! Wenn sie die Vereinigten Staaten von Europa nicht wollen, sollen sie doch rausgehen!“ Heute bin ich da zurückhaltender, und als jemand, der Europa immer herbeigeredet und -geschrieben hat, hoffe ich, dass die Leser auch etwas verunsichert werden. So wie ich auf Reisen.