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Geschenke zu Weihnachten

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Von: Silke Scheuermann

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Wochenlang hatte er auf dem Dachboden herumgebastelt.
Wochenlang hatte er auf dem Dachboden herumgebastelt. © Getty Images

Schnell noch in den Trödelladen, und da ist es auf einmal, das alte Puppenhaus und die Erinnerungen dazu – Silke Scheuermann hat für die FR eine Weihnachtsgeschichte geschrieben.

Im Trödelladen an der Berliner Straße ging es am Tag vor Heiligabend hoch her. Robert, der im Laden eigentlich nur einen raschen Gang an den Regalen vorbei machen wollte, um für einen Kollegen in der Agentur eine originelle Kleinigkeit zu erstehen, wurde andauernd ausgebremst. Dabei wollte er die Sache möglichst schnell hinter sich bringen. Normalerweise fand man hier – der Besitzer des Geschäfts vermietete, nach Flohmarktprinzip, für potenzielle Verkäufer nicht Standflächen, sondern Regale – sehr leicht etwas. Sein Blick schweifte herum. Teekannen, Kaffeemaschine, Gürtel, ein antikes oder pseudoantikes Schaukelpferd. Ein riesiger, nagelneu aussehender Flachbildfernseher, alte, geschliffene Gläser. Wandlampen, Hängelampen, Handtaschen. Er drückte eine Osteuropäerin möglichst dezent zur Seite, um sich den Bonsai anzusehen, der seine Äste gegen einen rotgerahmten Spiegel drückte. Der Topf war interessant, aber das Gewächs machte es eindeutig nicht mehr lange. Er seufzte. Einfach in die Weinhandlung?

Er sah quer durch den Raum zum Ein- und Ausgang. Ja. Gerade drängten wieder drei Leute herein. Er erhaschte einen Blick an die Wand hinter der Eingangstür und stutzte. Nein.

Nein, das konnte nicht sein. Das war unmöglich!

Er pflügte nach vorne, scherte sich nicht um das Drumherum. Stand dann davor.

Doch. Direkt vor ihm. In dieser für Verkäufer eher ungünstigen Position, da war es.

Das Puppenhaus.

Er erkannte jede Einzelheit wieder. Es schien genau so auszusehen wie vor zwanzig Jahren.

Sein Puppenhaus.

Also, natürlich nicht seins im Sinne von Besitz. Er hatte es gebaut. Als Student, in seinen Zwanzigern, für eine Freundin mit zwei Kindern. Das Mädchen hatte sich riesig gefreut über dieses Geschenk. Und Lena, ihre Mutter und Roberts damalige Freundin, vergaß, wie schwer sie in der Regel zufriedenzustellen war. An jenem Weihnachten in München, wohin es ihn zum BWL-Studium verschlagen hatte, blieb sie tagelang ganz Charme und Zuwendung.

Er bückte sich, um die einzelnen Zimmer zu betrachten, die er liebevoll mit winzigem Spielzeug möbiliert hatte, Blumenvasen, Sekretär, Betten, Teppiche, Zimmerpflanzen, sogar Bücher.

Soweit er sah, war alles noch da. Nur die Puppen fehlten.

Die Autorin

Silke Scheuermann, 1973 geboren, lebt in Offenbach. Sie veröffentlicht Lyrik und Prosa, zuletzt den Gedichtband „Skizze vom Gras“, den Roman „Wovon wir lebten“ und ihre Frankfurter Poetikvorlesungen, „Gerade noch dunkel genug“. 2021 war sie Poetikprofessorin an der Uni Bamberg.

Sie waren das Einzige gewesen, das er nicht selber hergestellt hatte, damals. Ob sie sie behalten hatte? Aber warum ausgerechnet sie? Sie müsste doch begriffen haben, wie viel Arbeit er sich mit allem anderen gemacht hatte?

Sie musste inzwischen im selben Alter sein wie er damals. Flüchtig fiel ihm der Kollege wieder ein, in seinen Vierzigern wie er. Er hatte ständig Freundinnen in diesem Alter.

Es war kalt gewesen, damals in Berlin. Lena hatte sich von ihm getrennt mit der Behauptung, er möge ihre Tochter nicht und mit so einem Mann könne sie nicht zusammen sein. „Das ist endgültig“, hatte sie gesagt, mit einer mechanischen, kühlen Stimme. Jetzt, in diesem seltsamen, vollgestopften Laden, sah er ihr Gesicht vor sich. Er fröstelte.

Daraufhin hatte er für die Kleine – Luisa, jetzt fiel ihm auch der Name ein – dieses Haus als Weihnachtsgeschenk gebaut. Sie wünschte sich das schon lange, Lena fand es zu teuer. Zwar hatte er nicht wirklich an eine Versöhnung geglaubt, aber er wollte eben sein Möglichstes tun. Er hatte sich eine Bauanleitung besorgt, „Puppenhäuser selber bauen“. Damals lebte er in einer WG und hatte, weil er sich nicht von den anderen Jungs bespötteln lassen wollte, einen kleinen Raum auf dem Dachboden des Hauses für sein Projekt benutzt.

Projekt! Er hatte als junger Mann immerzu Projekte gehabt. Robert musste lächeln. Stand da und dachte an damals. An sich. Wie er gewesen war.

Er hatte einen unglaublichen Ehrgeiz besessen. Hatte an alles oder nichts geglaubt, an ein Leben, das er selbst sich gestaltete, ein Leben, das zum allergrößten Teil in seiner Macht lag. Alles tun, seit wann versuchte ich das nicht einmal mehr? Seit ich begriffen habe, dass es verdammt wenig ist, das in meiner Macht liegt?

Wochenlang hatte er auf dem Dachboden herumgebastelt, im Geruch nach Sägemehl und Leim. Zog feine Bleistiftstriche auf Sperrholz, schnitt Platten zu, die später Wände, Decken und Böden werden sollten. Im Maßstab 1:12 (selbst das fiel ihm wieder ein!) lag die Geschosshöhe zwischen 220 und 250 Millimetern, er setzte Geschoss für Geschoss zusammen und leimte es dann aufeinander. Sägen. Feilen. Kleben. Messen. Er hörte Radio und spielte mit dem Gedanken, den Fernseher hochzuholen, aber das hätte bei den Mitbewohnern für Aufruhr gesorgt. Außerdem merkte er, dass er Ruhe brauchte, nicht um nachzudenken, einfach nur Ruhe. Die Tage flossen ineinander, draußen wurde es spät hell und früh dunkel, ein Wintertag reihte sich an den nächsten, drinnen, an seinem Schreibtisch, ergänzte er den Rohbau des Puppenhauses um Treppen, Tapeten und Parkett, er überlegte, wie er das Haus aufteilen sollte. Neben einem Wohnzimmer plante er einen Salon für Parties, ein Elternschlafzimmer, ein Kinderzimmer, Bad, Küche und auch ein Musikzimmer.

Silke Scheuermann.
Silke Scheuermann. © Andreas Arnold

Das Schwierigste war das Licht gewesen. Zuletzt fehlte nur noch die Beleuchtung, das Lichtsystem, das Tüpfelchen auf dem i. Dazu hatte er Lämpchen installieren und die Drähte der verschiedenen Leuchten auf der Rückseite miteinander verbinden müssen. Zuerst hatte er versucht, alle Leitungen auf einer einzigen Verteilerleiste zusammenzuschließen, aber das gelang ihm nicht, er brauchte mehrere. Mit Klebestreifen hatte er die losen, herumhängenden Kabel, die zwischen den Fingern verrutschten, befestigt; die feinen Drähtchen sollten bei einem eventuellen Kurzschluss nicht durchschmoren.

Wie stolz er gewesen war, als es funktionierte.

Und es hatte funktioniert.

Er hatte an Lenas Tür geklingelt. „Was willst du?“, hatte sie gefragt. Nicht sehr freundlich. Aber dann, als er einen Schritt beiseite ging, und sie das Geschenk für ihre Tochter sah, hatte sie ihn hereingelassen. Fand es wunderschön, das Haus. Und Luisa erst! Dieses Freudengeheul!

Was wohl aus ihnen geworden war? Und was hatte Luisa nach Offenbach verschlagen? Die Arbeit? Ein Studium an der HfG? Die Liebe? Vielleicht war er schon einmal auf der Straße an ihr vorbeigegangen und hatte sie nicht erkannt. Und sie ihn auch nicht, schließlich waren sie nicht verwandt. Gut möglich sogar. Ob sie ihrer Mutter ähnelte?

Inzwischen, dachte er, wird sie gemerkt haben, dass dieses heimelige, freundliche Puppenhaus eine Lüge ist. Sie wird wissen, wie Häuser in Wirklichkeit sind.

Er breitete die Hände aus. Wollte das Spielzeug hochheben und zur Kasse bringen, da kam jemand herein. Da sah er sie. Dieses Lächeln. Die Haare. Die junge Frau bemerkte ihn, sah das Haus in seinen Armen, schaute ihm in die Augen. Erkannte ihn nicht, natürlich nicht.

„Hallo Luisa“, sagte er.

„Entschuldigen Sie, aber…“

Er erklärte ihr, wer er war. Sie konnte es kaum glauben.

Es war der Tag vor Weihnachten, fünfzehn Jahre danach, als er die junge Frau, die ihrer Mutter so ähnlich sah, zu einem Glas Wein einlud. Mal sehen, dachte er, dabei, einfach mal sehen, was passiert.

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