Geraubte Kindheit

Eine jüdische Geschichte: Wie ein Junge aus dem Warschauer Ghetto entkommt
Von GÜNTER KUNERT
Zwar nennt sich das Buch von Uri Orlev "Roman", doch ist es eher ein Tatsachenbericht, denn die Hauptperson des Buches lebt in Israel als Erzieher und Mathematiklehrer. Dort hat er, wie alle Einwanderer, einen hebräischen Namen angenommen und heißt nun Joram Friedmann. Als Kind hieß er zuerst Srulik, dann legte er sich einen polnischen Namen zu: Jurek. Und das aus gutem Grund. Er flüchtete mit seinen Eltern und seiner Schwester aus dem Warschauer Ghetto durch ein Mauerloch auf die so genannte "arische" Seite, doch außer ihm kam nur noch die Schwester davon, deren Spur er jedoch verlor. Die Eltern verschwanden, wie Millionen Juden, spurlos.
Jurek gelangte in die dichten Wälder, wo er sich von Pilzen, Beeren und Blättern ernährte, doch als der Herbst kam, der Winter, musste er Kontakte zu Menschen suchen, bei denen er ungefährdet war. Nun begann für ihn eine Odyssee durch das von Deutschen besetzte Polen von Bauernhof zu Bauernhof. Er gab sich, glücklicherweise blondhaarig, als Flüchtling der ersten Kriegstage aus, fand Unterschlupf, für den er, der Acht- oder Neunjährige, das Vieh hütete und sonstige Landarbeiten verrichtete.
Aber die Aufenthalte währten nie lange, die Bauern ahnten, was es mit dem Jungen auf sich hatte. Entweder fürchteten sie, denen bei Entdeckung eines versteckten Juden die Todesstrafe drohte, bei Nachbarn aufzufallen, oder sie planten sogar, den Jungen den Deutschen auszuliefern. So hauste Jurek immer wieder zeitweise in den dichten Wäldern, bis ihn die zunehmende Kälte in die Nähe von Menschen trieb. Bei den Bauern hatte er gelernt, sich wie ein Christ zu verhalten, vermochte nach ihrem Ritus zu beten und sich zu bekreuzigen und vergaß langsam seine frühere Kindheit; er wuchs in die polnische Identität, von der er sich Schutz versprach, unaufhaltsam hinein.
Dennoch wusste er nur zu genau, wer ihm ans Leben wollte. Und so geschah es auch eines Tages, dass er gefangen und einem Gestapo-Offizier überstellt wurde. Der jedoch, ohne ihn sogleich zu erschießen oder in ein Vernichtungslager zu schicken, verlieh den Jungen an eine deutsche Landwirtin, wo er die Pferde einer Dreschmaschine antrieb. Unversehens geriet die Peitsche zwischen die Zahnräder, und mit der Peitsche auch Jureks Hand. Man schaffte ihn in ein Krankenhaus, wo sich der Arzt weigerte, den Juden zu behandeln, doch ein menschlicherer Mediziner sorgt sich um den Verletzten, bloß leider zu spät: Die Hand musste amputiert werden. Und jetzt, nachdem er erneut auf der Flucht war, suchte man, wie er hörte, einen jungen einhändigen Juden.
Uri Orlev erzählt die abenteuerliche Geschichte detailliert und nüchtern und überlässt es der Fantasie seiner Leser, sich die Angst des Kindes auszumalen, die Furcht, umgebracht zu werden, den Hunger und die leibliche Not, wie sie Nichtjuden in solchem Ausmaß kaum erlebt hatten. Was sich wie ein Abenteuer liest, war der unaufhörliche Kampf ums nackte Überleben. Insofern ist der Begriff der Abenteuerlichkeit wohl unangemessen, da wir, selbst als junge oder jüngere Leser, trotz aller Gespanntheit durch unsere Lektüre, genau um den glücklichen Ausgang wissen. Wir wissen: Unser Held wird alle Gefahren bestehen, bis zum Happy End.
In Orlevs Buch, dem nicht die Spannung, doch das herkömmliche Abenteuerliche fehlt, ist der Ausgang bis zum Schluss ungewiss. Jede Wendung, jede neue Unterkunft für den Jungen kann sein Verderben sein. Und sein Überleben ist ein fragwürdiges, weil darüber der Schatten seiner Verluste liegt. Nicht allein, dass ihm ein irrwitziges System die Kindheit geraubt hat, es hat ihn ebenso um seine Eltern gebracht, um Verwandte und Bekannte, um seine gewohnte Umwelt, in der er sich heimisch zu fühlen vermochte. Der Nazismus hat unschuldige Menschen zu jagbaren Tieren erniedrigt und Berge von Leichen angehäuft. Ein heute unvorstellbares, fast unglaubliches Geschehen, das wahrzunehmen sich viele Leute geweigert haben und noch weigern. Freilich sprechen die Zeugen eine andere Sprache: die der Erinnerung. Und die Indizien und Belege verweisen auf das in der deutschen, in der europäischen Geschichte Einmalige des Vorganges.
Orlevs Buch ist keine heitere Unterhaltung, so wenig wie das damalige Dasein der Betroffenen erheiternd gewesen ist. Dennoch und trotz allem: Wer sich nicht selber blind machen will, sollte das Buch unbedingt lesen, unabhängig von der Altersstufe. Lauf, Junge, lauf richtet sich keineswegs ausschließlich an Jugendliche, es ist auch für die Erwachsenen geschrieben, deren Kenntnisse über die Vergangenheit dürftig sind oder schon verblasst. Aber die Vergangenheit, wir wissen es nur zu gut, vergeht nicht, indem man sie ignoriert. Sie ist latent vorhanden, in den Köpfen und in der Mentalität; mit dieser Vergangenheit leben zu lernen, sie als ein Ereignis anzusehen, das sich niemals wiederholen darf - daraus zieht das Buch von Orlev seinen Sinn und Zweck.