Gabriele Tergit: „Der erste Zug nach Berlin“ – Die Herrn Nazis haben die Posten

Die Satire „Der erste Zug nach Berlin“ der jüdischen Schriftstellerin Gabriele Tergit zeichnet ein böses Bild von Nachkriegsdeutschland.
Der Mantel der Farce bedeckt oft nur mühsam die darunter liegende Bitterkeit. Dafür ist der Roman „Der erste Zug nach Berlin“ der deutschjüdischen Schriftstellerin Gabriele Tergit ein Beispiel. 1894 in Berlin als Elise Hirschmann geboren, schrieb sie von 1915 an für Tageszeitungen, machte 1931 literarisch Furore mit ihrem Roman „Käsebier erobert den Kudamm“. Und musste 1933, nur wenige Wochen nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten, mit ihrem Sohn in die Tschechoslowakei fliehen. Den Rest ihres Lebens, bis zu ihrem Tod 1982 in London, verbrachte sie im Exil, unter insgesamt 20 verschiedenen Adressen.
Dieses dürre Gerüst der Fakten steckt in einer Biografie, die Heimat lange Zeit nicht kannte. Es ist das Verdienst des Frankfurter Schöffling Verlags, die literarischen Werke Tergits wieder dem Vergessen entrissen zu haben. Das gilt für ihren großen Familienroman „Effingers“ (1931 begonnen, erst 1951 erschienen!) wie für die autobiografisch geprägte Arbeit „So war’s eben“, aber auch für ihre Gerichtsreportagen und ihre Erinnerungen unter dem Titel „Etwas Seltenes überhaupt“.
Und nun also die bitterböse, überdrehte Satire „Der erste Zug nach Berlin“. Die Autorin verarbeitet hier die ernüchternden Erfahrungen von zwei Reisen 1948 und 1949 in ihre zerstörte Heimatstadt Berlin. Die von Nicole Henneberg herausgegebene Ausgabe folgt dem Originaltyposkript, das im Deutschen Literaturarchiv in Marbach aufbewahrt wird. Der Text ist halb in Deutsch, halb in Englisch verfasst, spiegelt so auch die besondere Situation der Exilantin.
Ein US-Girl in Deutschland
Der tempo- und dialogreiche Text erzählt die Geschichte des reichen US-Girls Maud aus New York, 19 Jahre alt, das eigentlich vor der Heirat mit dem Snob Clark Perry steht. Da ergibt sich für die junge Frau überraschend die Gelegenheit, mit einer Journalisten-Delegation Berlin, die Hauptstadt des gerade erst besiegten Nazi-Deutschlands, zu besuchen.
Mit dem Kunstgriff einer naiven Unschuld als Hauptfigur schafft sich Tergit die Freiheit zur ätzenden Betrachtung der Wirklichkeit aus der Distanz. Für Maud ist Deutschland so weit weg wie der Mond und ähnlich viel wie über den Erdtrabanten weiß sie auch über das Land. In den drei Monaten ihres Aufenthalts in Berlin trifft Maud auf viele ehemalige Nazis, die „hochmütig“ und „unbelehrbar“ auftreten. Ihre Erkenntnis: „Die Herrn Nazis kriegen die Posten wie eh und je.“ Das Mädchen im Hotel weigert sich, ihr Zimmer aufzuräumen, weil sie Jüdin sei.
Viele der Dialoge hat die Schriftstellerin aus Gesprächen rekonstruiert, die sie bei ihren Berlin-Besuchen führte. Der schroffe Wechsel zwischen Deutsch und Englisch verleiht dem Text Spannung und Authentizität. Die junge Frau macht selbst bittere Erfahrungen. Maud verliebt sich in einen gutaussehenden Deutschen, dessen Jagdhütte ihr Liebesnest wird. Doch dann muss sie erfahren, dass ihr Liebhaber „die rechte Hand von Goebbels“ war, des früheren Reichsministers für Volksaufklärung und Propaganda.
Das Buch
Gabriele Tergit: Der erste Zug nach Berlin. Roman. Schöffling & Co., Frankfurt a. M. 2023. 208 Seiten, 22 Euro.
Es ist der Journalist Merton, ein bekannter US-Publizist und Mitglied der Delegation, der ihr nach und nach die Augen öffnet. Im düstersten Kapitel des Buches, in dem der Ton sich auch ändert und das Tempo nicht mehr so forciert wirkt, lernen die beiden einen KZ-Überlebenden kennen. Der schwer gefolterte Reinhold, der einmal ein berühmter Journalist war, entwirft im Gespräch die Utopie der „Vereinigten Staaten von Europa“ mit einer gemeinsamen Währung und einem auf vier Jahre gewählten Präsidenten, „der ein Schweizer hätte sein müssen“. Doch noch während des Besuches von Maud und Merton stirbt Reinhold.
Das ist der dunkle und unheimliche Kern eines Buches, in dem Tergit vielleicht ihre eigenen Hoffnungen für die Zukunft eines demokratischen Europas umreißt. Stattdessen sitzen Maud und Merton am Ufer der Elbe, des Grenzflusses zur sowjetisch besetzten Zone, und erleben Flüchtende, die in beide Richtungen den Strom überqueren, ja sogar durchschwimmen.
Dann heiratet sie doch lieber
Maud beschließt, bei Merton zu bleiben, seine Sekretärin zu werden, gemeinsam mit dem wesentlich älteren Mann für eine bessere Welt zu kämpfen. Doch die Schlusspointe ist wieder eine bittere: Maud schreibt das alles im Rückblick, von New York aus. Sie ist in die USA zurückgekehrt, hat Clark Perry geheiratet. Sie konnte „nicht über meinen Schatten springen“.
Exilantin Tergit arbeitete in London für das P.E.N.-Zentrum deutschsprachiger Autoren im Ausland. Sie hat Berlin immer wieder besucht, doch sie kehrte nie dauerhaft nach Deutschland zurück. Berlin habe sie „lebenslänglich geprägt“, sagte sie. Das spürt man auch bei der Lektüre dieses Buches.
Im Nachkriegsdeutschland der Wirtschaftswunder-Jahre, das die NS-Zeit verdrängte, war Tergit vergessen. Vergeblich suchte sie Verlage für ihre Texte. Unter dieser mangelnden Anerkennung litt sie sehr. Erst in den späten 70er Jahren, nur kurz vor ihrem Tod, nahm die literarische Öffentlichkeit langsam wieder Notiz von ihren Arbeiten. Ihre Erinnerungen erschienen erst 1983 postum. Heute erinnert in Berlin die Gabriele-Tergit-Promenade nahe des Potsdamer Platzes in Berlin an die Schriftstellerin.