Die Freiheit der Einbildung

Unser Autor hat das Neapel Roberto Savianos bei Google Street View nachverfolgt.
Roberto Savianos Buch „Der Clan der Kinder“ spielt in Neapel, in dem Stadtteil Forcella, einem Teil des historischen Zentrums der Stadt. Ich war oft dort. Die Straßennamen sagen mir etwas, aber es ist lange her, dass ich dort war. Also bin ich unsicher. Wenn ich eine Stadt nicht kenne, interessiert mich nicht, durch welche Straßen der Held schlendert. Es spielt keine Rolle, ob sie erfunden oder exakt beschrieben sind. Es ist ein Roman. Die Kunst des Autors besteht darin, in mir ein Bild zu erzeugen. Er soll sich nicht auf mein Gedächtnis verlassen.
So habe ich auch nie verstanden, warum Nabokov seinen Studenten empfahl, bei der Dickens-Lektüre einen Londoner Stadtplan zu konsultieren oder bei Dostojewski einen Petersburger. Was soll dabei herauskommen? Dass es die Straßen tatsächlich gab? Dass die Reihenfolge stimmt, in der sie abgegangen werden? Wen interessiert das? Eine Freundin führte mich einmal in Wien zur Strudlhofstiege. Eine Enttäuschung. Aber wen wundert das? Was soll eine Strudlhofstiege ohne Heimito von Doderer?
Und doch habe ich die Kindergang bei ihren von Roberto Saviano geschilderten Raubzügen durch Neapel mit Hilfe von Google Street View verfolgt. Vielleicht lag es an meiner Unsicherheit. Ich sah beim Lesen die Straßen nicht vor mir. Ich konnte mich nicht an sie erinnern und vorstellen konnte ich sie mir nicht, weil ich mich doch noch zu gut an sie erinnern konnte, sodass ich nicht mehr die Freiheit hatte, sie mir selbst einzubilden. So entstand wohl das erste Mal in mir der Wunsch, mir gerade kein Bild zu machen, sondern das Bild aufzusuchen, aus dem der Autor seines gemacht hatte.
Eine für den Aufstieg des zukünftigen Gangleaders wichtige Konfrontation findet im Vico Sant Aniello a Caponapoli, einer schmalen Gasse unweit vom Archäologischen Museum statt. Google Street View zeigt sie mir, und es steht auch ein Motorrad da. So eins wie die, auf denen sich der Clan der Kinder Verfolgungsjagden liefert.
Ich merke, wie ich mich vom Roman zurückziehe und immer mehr Zeit dafür verwende, Kirchen, Plätze, Bars aufzusuchen, die in ihm erwähnt werden. Ich höre auf, den Roman zu lesen und lese statt seiner Google Street View. Das hängt, glaube ich, mit der spezifischen Art Realismus des Buches zusammen. Es ist ein Realismus, der dazu dient, dem Leser Authentizität zu verbürgen. Eine der Methoden ist die genaue Lokalisierbarkeit des Geschehens. Das ist der Geschichte, um die es geht, nicht äußerlich. Beim Drogenhandel geht es um Territorien. Jede Straßenecke muss erobert und verteidigt werden. Jeder Quadratmeter ist Verkaufsfläche.
Mein Abtauchen in Google Street View zerstört diesen Zusammenhang. Gleichzeitig erlaubt es mir sofort, mit den von der Fiktion geöffneten Augen auf die Wirklichkeit zu sehen. Die graue Gasse ist zum Schauplatz geworden. Ein Effekt, den Fotografen immer wieder gerne verwenden, indem sie Tatorte fotografieren, lange nachdem die Tatortreiniger da waren. Man sieht in Wahrheit also nichts. Aber man weiß: Hier wurde gemordet. Die Kombination von Unschuld und Verbrechen erzeugt einen hohen ästhetischen Reiz. Hier haben wir es gewissermaßen mit dem umgekehrten Vorgang zu tun: Ein harmloser Ort wird in einem Roman zu einem Tatort. Der Schauereffekt ist schwächer, aber er ist doch auch da.
Google Street View hat meine Art zu lesen verändert. Womöglich hat sie auch schon die Art zu schreiben verändert. Vielleicht nutzen Autoren inzwischen die Street View für die Beschreibung von Örtlichkeiten, an denen sie nie waren. Und erreichen damit eine Genauigkeit, die den Eindruck vollkommener Authentizität vermittelt. Man könnte aber natürlich auch sich einfach Straßen, Gebäude, Landschaften, Szenen aus dem Netz zusammensuchen und aus diesen Versatzstücken unterschiedlichster Realitäten eine neue, eigene Wirklichkeit zusammenstellen, die wie ein Traum voller Volten und zugleich präzise ist.
Als die Fotografie aufkam, übernahm sie schnell einige der Aufgaben der Malerei. Das war aber nicht deren Ende, sondern der Ausgangspunkt für eine radikale Umdefinition der Kunst. Sie war nicht mehr zuständig für die Reproduktion des Sichtbaren, sondern für die Sichtbarmachung des Unsichtbaren. Das ist etwas übertrieben. Denn die Kunst hat schon immer auch das Unsichtbare – den Gott z.B. – sichtbar gemacht, und sie hat nie ganz aufgehört, die Wirklichkeit zu verdoppeln. Aber die Gewichte haben sich verschoben.
Vielleicht wird es in der Literatur eine ähnliche Entwicklung geben. Wenn die genaue Beschreibung einer konkreten Situation so leicht einzuholen ist, wie mir das geschah mit einigen Szenen in Savianos Roman, dann wird sich das Interesse womöglich verschieben von der Präzision ins Ungefähre.
Vielleicht aber wird auch hier die Parole von Thomas Bayrle gelten: „Wenn etwas zu lang ist – mach es länger.“ Vielleicht wird die Genauigkeit der Ortsbeschreibungen noch zunehmen. So wie der Fotorealismus seinen Spaß darin fand, mit den Mitteln der Malerei fotografische Effekte zu erzeugen. Aber ganz gleichgültig, für welche Option sich ein Autor entscheiden wird, er wird es in Zukunft tun – oder tut es womöglich schon – mit Google Street View im Blick. Spätestens aber der Leser wird keine Beschreibung eines genau benannten Weges mehr lesen können ohne die Entscheidung: Nachschlagen oder nicht Nachschlagen bei Google Street View.