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Aus der Feder strömt Zauber

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Zwischenstation: Proust, hier einmal als zivil wirkender Freiwilliger beim 76. Infanterieregiment in Orléans, circa 1890.
Zwischenstation: Proust, hier einmal als zivil wirkender Freiwilliger beim 76. Infanterieregiment in Orléans, circa 1890. © Imago

So viel Leben von der Chaiselongue aus: Eine zweibändige Edition bei Suhrkamp stellt Marcel Proust als geradezu besessenen Briefeschreiber vor.

Von Eberhard Geisler

Marcel Proust, Autor des Romanwerks „Aus der Suche nach der verlorenen Zeit“, war ein besessener Briefsteller, der täglich mehrere Briefe an seine Bekannten schrieb und auf deren Nachrichten beflissen antwortete (die Post wurde zu seinen Lebzeiten in Paris dreimal täglich ausgetragen). Er war durch schweres Asthma und andere Krankheiten wie Rheuma und Augenleiden an seine Chaiselongue gefesselt und auf den schriftlichen Kontakt mit der Außenwelt dringend angewiesen.

Was sich dem Leser in diesen unermüdlichen Zuwendungen und detaillierten Ausführungen darbietet, zeigt nun eine neue zweibändige Ausgabe, herausgegeben von Jürgen Ritte, der zusammen mit Achim Russer und Bernd Schwibs die Schreiben in glattes Deutsch gebracht hat. Es handelt sich um eine Auswahl, die auf eine französische Publikation von 2004 zurückgeht. Noch immer sind wohl nicht sämtliche Briefe aufgefunden und ediert.

Zunächst überwältigt die Vielzahl wie der soziale wie geistige Rang seiner Briefpartner. Er richtet sich an André Gide, Alphonse Daudet, dessen Gattin und selbst schreibenden Sohn Léon, Maurice Barrès, Henri Bergson (mit dem eine geistige Verwandtschaft zu haben er jedoch ablehnt), René Blum (Bruder von Léon Blum), Benjamin Crémieux, Jacques de Lacretelle, Anatole France, Jean Cocteau, François Mauriac, Jean Giraudoux, Philippe Soupault. Auch Zeilen an den Romanisten Ernst-Robert Curtius sind enthalten, der sein Werk früh in Deutschland bekanntzumachen versuchte.

Das mondäne Paris

Es ist das mondäne Paris, das hier vorgeführt wird und dessen Bourgeois nichts anderes zu tun haben, als sich Genüssen hinzugeben; ebenso Marcel, der selbst aus begütertem Haus stammt und in jungen Jahren als Schüler seinen Großvater in aller Offenheit zehn Francs erbittet, um ins Bordell gehen zu können. Das gesellschaftliche Ideal ist der Adel, der sich aller ökonomischen Zusammenhänge enthoben zu sein glaubt und sich einzig und allein den schönen Dingen widmen möchte.

Proust ist jedoch durchaus politisch interessiert; er nimmt die gesellschaftlichen Entwicklungen zur Kenntnis, äußert sich mehrfach zur Affäre Dreyfuss, schreibt über den Ersten Weltkrieg, in dem auch sein eigener Bruder verwundet wird und viele Bekannte fallen. Er fragt sich nach dem weiteren Fortbestand des französischen Katholizismus, skizziert sein Verhältnis zu den Deutschen, deren reiche Sprache und Musik er bewundert und die seinem eigenen Land nun plötzlich als Feinde gegenüberstehen. Er bestimmt sein Verhältnis zu der rechtsextremen, monarchistischen und nationalistischen Action française, die auch antisemitische Gruppen aufzunehmen versuchte – Prousts Mutter stammte aus einer jüdischen Familie.

Daneben gibt es freilich auch viel Banales. Der Autor berichtet haarklein darüber, was er mit den wertvollen Möbeln seiner gerade gestorbenen Eltern anstellen will, beklagt sich mehrfach über hellhörige Wohnungen, in denen er sich nicht konzentrieren kann. Er nennt die Höhe der Trinkgelder, die er auf Reisen in den Hotels verteilt, berichtet den Freunden über seine zahlreichen Finanzoperationen. Er hatte ein stattliches Vermögen geerbt, das ihn zunächst von der Notwendigkeit des Broterwerbs befreite, das er aber durch Spekulationen verliert, weshalb er fortan, in seinem Zimmer weitgehend zurückgezogen, nur noch von seinen Honoraren leben muss.

Allen jenen, die sich im deutschsprachigen Raum über das gesellschaftliche Umfeld, die Entstehung und oft komplizierte Verlagsgeschichte von Prousts Meisterwerken näher informieren wollen, können diese beiden Bände ans Herz gelegt werden. Es ist darüber hinaus aber noch etwas anderes; etwas, was die Lektüre dieser Briefe zu einem beeindruckenden Erlebnis macht. Man wird unterrichtet über die oftmals prekäre Entstehungsbedingung von Literatur. Um Atem ringend auf sein Lager hingestreckt, wird dem Romancier das Schreiben zur Herkulestat.

Proust arbeitet wie ein Berserker, liest und korrigiert beständig Druckfahnen. Er geht soweit, die Krankheit als Voraussetzung für geniale Potenz in der Moderne zu bezeichnen. Man freut sich mit ihm, wenn er in den letzten Jahren den großen Erfolg seiner Bücher noch miterleben kann; trefflich spricht er von einer „Schlusskaskade an Triumphen“.

Die radikale Ethik des Künstlers nimmt man mit Ehrfurcht zur Kenntnis. Größte Höflichkeit und Feinfühligkeit allen Menschen gegenüber ist ihm Pflicht; er strebt nach geistiger Anmut, Noblesse und Uneigennützigkeit. Er führt die Notwendigkeit der Selbstrücknahme des Schriftstellers, seiner Selbstvergessenheit und seines Abschieds von jeder Eigenliebe vor, wodurch erst eigentlich die ersehnte Wucherung gültiger Sätze möglich wird.

All diese Ideale, die Ästhetik und Moral miteinander verschmelzen, erfährt er auch in den von ihm gern besuchten und erwähnten Aufführungen von Richard Wagners Opern, in der Musik vor allem des späten Beethoven, derjenigen César Francks und Claude Debussys. Es ist eben Muße, die es zur Verwirklichung solcher erlesenen Ziele braucht.

Proust verleiht an einer Stelle seinem Wunsch Ausdruck, einige Jahrzehnte – es waren ihm nur etwa drei vergönnt – in vollständiger Muße verbringen zu können, um, wie er notiert, mit Mikroskop oder Teleskop die Wirklichkeit zu beobachten und beschreiben.

Obschon spontan verfasst, geben diese Texte Zeugnis von Prousts berückender Schreibkunst. Die Lyrikerin Anna de Noailles nennt seine Sätze kostbare Seidenbänder. Proust selbst charakterisiert die eigene Prosa, etwa wenn er sie als Schleier apostrophiert, der sich über ein Zuviel an Glanz wirft.

Ähnlich ist jene brillante Stelle zu lesen – und sie kann dazu auffordern, sich mit der Suche nach der verlorenen Zeit erneut zu beschäftigen: „So lebe ich also über meine lieben Bildnisse gebeugt, diese Spiegelungen der Vergangenheit, die sich nur auf dem Grund ruhiger Gewässer abmalen und sie verschönern bis zum letzten Tag, dem Tag, an dem die schwindende Klarheit alle Spiegelungen auflöst und auslöscht, an dem das spiegelnde Wasser nur mehr das der Lethe ist.“

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