Das falsche Drehbuch

Emmanuel Carrères „Russischer Roman“ ist eine subtile Ode an das Scheitern aller Pläne.
Genug, es reicht. Um dem Elend seines Psychosumpfes zu entkommen, nimmt der französische Schriftsteller Emmanuel Carrère einen Reportage-Auftrag an. Der führt ihn freilich umweglos zurück ins waidwunde Herz seiner Kernkompetenz aus „Wahnsinn, Eiseskälte und Abschottung“. Aber erst einmal fährt er mit dem Zug nach Kotelnitsch, ein trostloses Kaff viele Hunderte Kilometer nordöstlich von Moskau, wo ein namenloser ungarischer Kriegsgefangener 53 Jahre lang in der Psychiatrie interniert war, nicht sprach und von niemandem vermisst wurde.
Die Recherche nach dem Geheimnis des Verstummten führt zu nichts, eine zum Auftakt des Romans im Zug halluzinierte Sexfantasie ist nur Vorspiel zum langen Abschied von einer schon verkorksten Liebe, und auch die ersehnte Befreiung von einem mit Schweigen belegten Familientrauma des Autors haut nicht hin. Denn die Geschichte des 1944 verschwundenen Großvaters, eines unglücklichen Georgiers im Pariser Exil, der als Kollaborateur der faschistischen Besatzer von der Resistance hingerichtet wurde, darf wegen Carrères Mutter, der angesehenen französischen Historikerin und Direktorin der Académie française, nicht auserzählt werden.
Dieses Buch, das sich „Ein russischer Roman“ nennt, enttäuscht somit in tückischer Konsequenz alle Hoffnungen auf die in Aussicht gestellten Geschichten. Nichts wird eingehalten von den dramaturgischen oder narrativen Versprechungen. Und doch hat dieses Buch mich eine neunstündige Zugfahrt lang gefangen gehalten, nur um mich am Ende so desillusioniert, melancholisch und depressiv zurückzulassen wie vermutlich den Autor selbst.
Die Spuren des bald nach Kriegsende in seiner Heimat für tot erklärten ungarischen Jungsoldaten verlaufen sich schnell in der Belanglosigkeit einer dünnen Krankenakte. Die Kleinstadt ist ein unbeheiztes Postkartenklischee aus postsowjetischer Trostlosigkeit, Gewalt und Wodka, ihre Bewohner sind feindselig und langweilig. Selbst der Geheimdienst, für den Carrères russischer Übersetzer und Koordinator zu arbeiten scheint, funktioniert nicht mehr, und die Vorstadt-Mata Hari, die französische Chansons singen kann, bewahrt ihren Zauber nur so lange, bis sie ein Kind bekommt. Und doch zieht es den zivilisationsmüden Snob Carrère immer wieder in diese Wüstenei der Verschwundenen, Verlorenen und Gottverlassenen. Hier will er sogar einen Film drehen, für den er kein Drehbuch und keine Idee hat, hier in diesem von Anfang an von Hoffnungslosigkeit, Ödnis und vulgärer Tristesse gezeichneten Unort will er seine „russische Seele“ finden, deren Substanz, so Tschechow, ja aus Alkohol und Weltschmerz besteht.
In der für ihn unumgänglichen Ich-Form, äußerst stilvoll zynisch und misanthropisch elaboriert, erzählt Carrère dabei vor allem von seinem Scheitern, die Welt als etwas anderes zu sehen, denn als Kulisse für seinen melancholisch dekadenten Lebensüberdruss. Wo kommt er her? Klassischer Fall von weiß, männlich, über fünfzig, gebildet, privilegiert. Von seinem zwangsläufig erfolglosen Versuch, die Welt – ausgerechnet in Kotelnitsch – als sie selbst zu sehen, also vom permanenten Prozess der Enttäuschung handelt sein Bericht. Hauptsächlich.
Denn dazwischen schreibt der Autor seine erste heitere, ja geradezu lustige, da pornografische Erzählung: Ein Schriftsteller schreibt eine Geschichte, in der er seine Freundin zum öffentlichen Masturbieren auf einer Zugfahrt anleitet. Natürlich nimmt auch dieser so hübsch zusammengedrechselte Plan ein böses Ende.
Das mit rotglühenden Ohren geschriebene Drehbuch des Autors wird wieder mal vom Leben ausgetrickst. Die schöne, zu junge und standesgemäß eigentlich auch unpassende Frau, die der Autor so obsessiv wie possessiv begehrt, betrügt ihn und bekommt lieber von einem langweiligen Muckitypen ein Kind. So schließen sich Kreise, die auf keinem Fahrplan und in keinem Drehbuch standen.
Carrère aber, der selbsternannte Experte in Sachen Verzweiflung, lernt weiter erfolglos russisch und hofft, dass er Gott damit die Möglichkeit gibt, ihn zu erretten. „Die Worte, über die ich verfüge, dienen nur dazu, von Unglück zu sprechen.“ Schreibt der Schriftsteller, und bezeichnet es als einen Sieg, über das Grauen zu schreiben. Das ist subtile Unterhaltung vom Allerfeinsten. Zumindest wenn sich gerne von einem depressiven Knitter-Egomanen auf eine literarische Irrfahrt in sein zerquältes Ich mitreißen lässt.