Existenz bis zum Beweis des Gegenteils

Haben die USA die Insel Bermeja gesprengt, wie Mexiko den Vereinigten Staaten vor zehn Jahren vorwarf? 1536 soll das Eiland jedenfalls gesichtet worden sein. Dirk Liesemers „Lexikon der Phantominseln“ ist es eine kurzweilige, unterhaltsame und nachdenklich stimmende Lektüre über Gier, Abenteuerlust und die Erforschung der Welt.
Wer reist, bereitet sich darauf vor, heutzutage gern mit Google Street View. Da sieht man, was einen in den Straßen New Yorks oder sogar als Taucher vor den Galapagos-Inseln erwartet. Auch die frühen Entdecker bereiteten sich auf ihre Reisen vor, Kolumbus zum Beispiel. Er wusste, dass er auf seinem Weg nach Asien noch einmal vor der Insel Antilia halten und frisches Wasser sowie Lebensmittel aufnehmen kann. Er hatte von der Insel von einem Gelehrten erfahren. Zumindest glaubte Kolumbus an Antilia – doch hätte er sich hinausgewagt, wenn er tatsächlich gewusst hätte, dass die Insel gar nicht existiert?
Kolumbus wollte einen Handelsweg entdecken, andere Seefahrer suchten nach neuen Kontinenten oder Inseln. Auf ihren Reisen sahen sie Land, oder glaubten zumindest, Land zu sehen, und berichteten darüber in ihren Schiffstagebüchern. Je öfter später eine Insel oder ein Riff erwähnt und auf Karten eingetragen wurde, desto realer wurden sie. Dirk Liesemer arbeitet die Geschichte von Dutzenden geographischen Fantasiegebilden auf, die das Leben von Abenteurern, Politikern und Geistlichen bestimmten.
Eine der schönsten Entzauberungen in dem Buch „Lexikon der Phantominseln“ ist die über das Maria-Theresia-Riff im Südpazifik. Das Riff wird erstmals Anfang 1844 in der US-Zeitung „New Bedford Mercury“ erwähnt. Es wird zu einer Insel im Roman von Jules Vernes „Die Kinder des Kapitän Grant“ von 1867, es taucht in späteren, auch modernen Atlanten auf und beschäftigt den deutschen Jules-Verne-Fan und Seefahrer Bernhard Krauth.
Eine Insel? Ein Wal?
Es beflügelt die Fantasie vieler Menschen, aber sehr wahrscheinlich ist es selbst der Fantasie eines Walfängers entsprungen – oder die eines Journalisten von „New Bedford Mercury“. Die Notiz des Walfängers jedenfalls lässt sich als „sahen Brandung“ oder als „sahen auftauchende Wale“ lesen, klärt Liesemer auf.
Seine Texte über die einzelnen Inseln sind kurz, selten länger als drei Seiten. Viele Geschichten lassen den Leser lächeln, wie zum Beispiel die über den Geltungsdrang eines amerikanischen Kapitäns namens Benjamin Morrell Anfang des 19. Jahrhunderts, der unbedingt etwas Neues entdecken will; oder die über einer Venezianer, der sich aufzuwerten versucht, indem er seinen Vorfahren wichtige Seereisen im 14. Jahrhundert andichtet.
Es ist mitnichten nur ein historisches Buch. In einigen Texten wird deutlich, wie bis heute Geisterinseln die internationale Politik beeinflussen. Vor zehn Jahren etwa unterstellte Mexiko den USA, die Insel Bermeja, die 1536 gesichtet worden sein soll, gesprengt zu haben. In diesem geopolitischen Streit geht es um die exklusiven Nutzungsrechte in der Umgebung von Inseln, es geht um Öl, um Geld. Die Frage nach Nutzungsrechten in Seegebieten steht heute ganz besonders auf der Tagesordnung. Die Klimaerwärmung wird einige Inseln und Küstengebiete untergehen lassen, das wird sich noch massiv diplomatisch auswirken, auch darauf weist das Buch hin.
Insgesamt ist es eine kurzweilige, unterhaltsame und nachdenklich stimmende Lektüre über Gier, Abenteuerlust und die Erforschung der Welt. Phantomgebilde im Meer gibt es weiterhin. Das Maria-Theresia-Riff zum Beispiel ist noch heute auf Seekarten zu finden: „Solange seine Nichtexistenz nicht bewiesen ist, bleibt es in den Seekarten vermerkt.“
Es geht also nicht nur um Entdeckungen, sondern auch um deren Überprüfungen. Und um Träume, wie die Geschichte über die Sankt-Brendan-Inseln im Atlantik zeigt. Der Name geht auf den Abt Brendan zurück, der im 6. Jahrhundert die Insel der Seligen suchte. Er fand sie. Wo sie genau liegt, das weiß später kein Mensch mehr. Doch weil es eine Insel der Seligen geben muss – wie kann es anders sein! – ändert sich deren geografische Lage. Die Brendan-Inseln verschieben sich „auf den Seekarten immer weiter nach Westen, zur jeweils äußersten Grenze der bekannten Welt“.
Es genügt dem Menschen offensichtlich nicht, die Welt zu vermessen. Er will auch den Zauber des Unbekannten bewahren. Auch davon handeln die 30 Geschichten im Lexikon der Phantominseln.
Dirk Liesemer: Lexikon der Phantominseln. Mare Buchverlag, Hamburg 2016. 160 Seiten, 24 Euro.