„Eva“ von Verena Keßler: Von Eva zu Eva

Verena Keßler beleuchtet das Thema Mutterschaft so klassisch wie anregend – und literarisch glückt, was sonst auch schiere Betroffenheitsprosa sein könnte.
Ein Thema, über das auch das meiste gesagt zu sein scheint. Und dann kommt ein Roman und erzählt es noch einmal und wieder wie zum ersten Mal, so frisch, so offen und auch so erschütternd. Drei Frauen und ihr Verhältnis zum Muttersein. Vier Frauen tatsächlich, aber die vierte taucht erst im vierten Kapitel auf, auf das man darum schon gespannt ist. Die anderen drei treten früh wenigstens kurz auf, bevor die Fühler des Romans zu ihnen und ihrer Perspektive schwenken.
Die Journalistin Sina hat soeben ein Interview mit einer Lehrerin geführt, die zur Rettung der Erde einen Geburtenstopp fordert. Sina selbst bemüht sich seit Jahren mit wachsender Verzagtheit, Verunsicherung, Verkrampfung, schwanger zu werden. Dass die Gründe weder bei ihr noch bei ihrem Lebensgefährten Milo physische sein können, ist nur im ersten Moment eine Erleichterung, im zweiten fragt sich Sina, ob die Schwangerschaft wirklich ihr eigener Wunsch ist (oder nämlich Milos). Das triftige Argument der lakonischen Ärztin, dass Frauen unter den grauenhaftesten Umständen und keineswegs freiwillig schwanger werden, hält nur kurz vor.
Zu Sinas Verstrickung gehört es, sich noch dazu immer tiefer in Internet-Mitgerede zu verheddern. Da es keine Frage gibt, die eine Suchmaschine im Netz nicht nach bestem Wissen und notfalls auf Biegen und Brechen zu beantworten bereit ist, gibt es für alles und jedes Erklärungen, Argumente. Dazu die verfluchten Erfahrungsberichte von Frauen, die schließlich doch noch schwanger geworden sind.
Die Lehrerin Eva Lohaus, die empfiehlt, das Kinderkriegen einzustellen, wird durch das Interview viel stärker bloßgestellt, als Sina es beabsichtigt hat – ja, Sina hat sich etwas geärgert, hat einen Vorspann geschrieben, der ein wenig boshaft ist. Jetzt würde sie ihn gerne zurücknehmen oder verändern, aber der Text klickt so gut. Klickende Texte, Redaktionen lieben es. Und das sind die Regeln der sozialen Medien, in denen es nurmehr um ein Detail aus dem verfluchten Vorspann geht, an dem sich alle, die das kommentieren, posten, weiterreichen, festbeißen. Der Hass eskaliert, zumal aus unerfindlichen Gründen Eva Lohaus’ Adresse bekannt wird.
Ein Huhn namens Rihenna
Im zweiten, ihr gewidmeten Kapitel ist Eva Lohaus bereits aufs Land gezogen, wo sie ein kleines Nachbarsmädchen kennenlernt. Das Lieblingshuhn des Mädchens heißt Rihenna, obwohl ihr Vater nicht erlaubt, dass sie den Tieren Namen gibt. Er ist ein nüchterner Landwirt, aber er will nichts essen, dessen Vornamen er kennt. Etliches in „Eva“ klingt beim Zusammenfassen der Ereignisse so sehr nach einem rührenden Mittwochsfilm im Ersten, dass erst recht zu bewundern ist, wie eigen und anregend es dennoch ist. Situationen wie aus dem Schablonenkasten, aber mit Leben gefüllt. Eva, die auch selbst nie ein Kind wollte, mag das Gefühl, dass mit ihr etwas zu Ende sein wird, „eine Ahnenkette, die sich über Millionen von Jahren fortgesetzt hatte“. „Von Eva zu Eva“, denkt sich Eva.
Die dreifache Mutter Mona ist Sinas Schwester und liebt ihre Kinder und wird von ihrer Lebenssituation seit Jahren ausgewrungen. Im dritten Kapitel erzählt sie von einer kurzen Reise nach Ibiza, mit der sie Sina nach deren Trennung von Milo ein bisschen trösten will. Mona hat die Pause allerdings womöglich noch nötiger als Sina die Ablenkung. Ihr Mann Roman ist mit den Kindern derweil auf einem Bauernhof für tierliebe Kinder aus der Stadt – es gibt geschickte Spiegelungen im Roman, die nicht weiter auffallen, aber die Intensität erhöhen –, für Mona praktisch eine unerhörte Auszeit.
Das Buch:
Verena Keßler: Eva. Roman. Hanser Berlin, 2023. 202 Seiten, 24 Euro.
Mona denkt an die Wut, die sie gelegentlich gegen Roman überkommt, dabei ist er ein netter Mann, liebt die Kinder, die sein Leben viel weniger durcheinandergebracht und okkupiert haben als Monas. Als nach dem ersten Kind die Zwillinge kommen, schreit sie ihn an, jetzt müsse aber er mal etwas tun. Klar, sagt Roman total nett, das werde er.
Dann tritt schließlich noch eine vierte Frau auf, Monas neue Nachbarin. Auch Roman und sie sind inzwischen nicht mehr zusammen, übrigens.
„Eva“, der zweite Roman der 1988 geborenen Verena Keßler – nach dem vielgelobten Debütroman „Die Gespenster von Demmin“, 2020 –, ist ein lehrbuchmäßig gebautes Buch, ernsthaft lehrbuchmäßig. Die Statik ist so tragfähig, dass Keßler in den jeweiligen Kapiteln aus dem Leben der Frauen erzählen kann, ohne dass es forciert oder überladen wirkt. Auch zeigt sich das Kunststück einer unsentimentalen Prosa über Gegenstände aus dem Fundus von Betroffenheitsliteratur: Nicht nur um Frau und Kind geht es dabei, auch um den Umgang mit einer Endlichkeit des Planeten, die selten so berechenbar war.
Der Ton: effizient, entspannt
Das Mädchen, das Eva auf dem Land kennenlernt, will Forscherin werden und neue Arten entdecken. Als Eva ihr deutlich macht, dass eher das große Aussterben voranschreitet, ist das Kind entsetzt. Zugleich begreift man, dass Eva eine gute Lehrerin gewesen sein muss und wahrhaft Keßlers Heldin ist. Der Ton, den Keßler anschlägt, ist nicht einmal übermäßig nüchtern. Er ist effizient und entspannt.
Etliche auch kriminalistische Fragen, die sich auftun, beantwortet Keßler manchmal spät, manchmal versteckt. Überhaupt erzählt Keßler an sich von einer großen, andauernden Katastrophe, so alltäglich, dass sie nicht weiter auffällt. Und Kinder sind trotzdem wunderbar, auch in „Eva“. Auch Eva ist dieser Meinung, das ist gar nicht der Punkt.