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An Europas Pforten

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Rolf Wörsdörfer geht der nationalen Frage im italienisch-jugoslawischen Grenzraum nach

Von JENS BECKER

Vor vierzig Jahren hat der Rechts- und Staatswissenschaftler Roman Rosdolsky auf die vielfältigen "Tücken" der so genannten "nationalen Frage" hingewiesen. Das Bedürfnis, sich einer Nation oder einer nationalen Minderheit zugehörig zu fühlen, sei tief im Gefühlsleben der Völker verwurzelt und stelle ein soziologisches Problem sui generis dar. Damit verbundene Indikatoren wie gemeinsame Herkunft, Geschichte, Kultur, Sprache oder Gebietsansprüche und letztlich auch Krieg und Gewalt prägen eine vielschichtige Nationalismusforschung, der es im Wesentlichen darum geht, nationale Artikulations- und Konstruktionsprozesse zu dechiffrieren. Letzteres leistet der Frankfurter Historiker Rolf Wörsdörfer mit seiner Monographie Krisenherd Adria 1915-1955. Anschaulich zeichnet er die Veränderungen im nordöstlichen Adriaraum nach, jenem geschichtsträchtigen Grenzgebiet, das die heutige italienische Friaul Julisch Venetien, Teile Sloweniens und das nunmehr kroatische Istrien umfasst. Seiner Meinung nach liegt hier der Schlüssel zum Verständnis der gemeinsamen Geschichte Italiens und Jugoslawiens.

Tücken der nationalen Fragen

Das Verhältnis beider Länder war nicht immer spannungsfrei. Heute verbringen italienische Staatsbürger wie selbstverständlich ihren Urlaub an der Küste Istriens oder Dalmatiens oder im slowenischen Hochgebirge und kurbeln damit die dortige Wirtschaft an. Noch vor wenigen Jahren belasteten Gebietsansprüche, vor allem aber Entschädigungsansprüche von italienischen Flüchtlingen oder Enteigneten das politische Klima im heutigen Dreistaateneck. Entsprechend einseitige "nationale" Geschichtsdeutungen über die vermeintlichen Gräueltaten der "anderen" hatten Wörsdörfer zufolge Hochkonjunktur. Inzwischen haben sich die Beziehungen der Nachbarstaaten normalisiert: Slowenien ist EU-Mitglied und Kroatien klopft an Europas Pforten und bittet um Einlass.

Akribisch sichtete der Autor deutsches, italienisches, kroatisches und slowenisches Archivmaterial und die entsprechende wissenschaftliche Literatur, um die in der 1880er Jahren beginnende "Nationalisierung" der nordadriatischen Grenzregion und den damit verbundenen "italo-slawischen" Konflikt zu rekonstruieren. Dem Gravitationszentrum der Region, der Metropole Triest, einem ethnischen Schmelztiegel par excellence, der nach dem 1. Weltkrieg zur Bastion des italienischen Faschismus wurde, gilt Wörsdörfers besonderes Interesse, wobei die Entwicklung im Karst, jener "Übergangszone zwischen den Ostalpen und den dinarischen Gebirgszügen", ebenfalls einen breiten Raum der Darstellung einnimmt.

Bereits im Ersten Weltkrieg beherrschten nationalistische Töne den erbittert geführten Stellungskrieg, der sich durch die Karstgebirge Italiens und Sloweniens zog. Die Isonzoschlachten 1915 und 1916 wurden zum Sinnbild für eine insbesondere vom italienischen Faschismus inflationär zelebrierte Gedenkkultur, auf die Wörsdörfer umsichtig eingeht. In der Zwischenkriegszeit wuchs die national-völkische Instrumentalisierung der Termini "Italianitá" und "Jugoslovenstvo". Durch die ethnische Kategorisierung wird laut Wörsdörfer die "subjektiv-bildhafte, repräsentativ-symbolische und emotive Seite der nationalen Mehrheits- und Minderheitenexistenz" angesprochen. "Ausschlaggebend ist, dass Italianitá und Jugoslovenstvo jeweils von Teilen der adriatischen Bevölkerung als repressive Ideologien, als Werkzeuge der Assimilation empfunden wurden. Das Nationale wurde nach 1918 vielfach nicht einfach nur konstruiert oder als Identifikationsangebot verbreitet, sondern es wurde verordnet."

Wörsdörfer kann zeigen, dass die "Nationalisierung" des adriatischen Grenzraums intendierte oder nichtintendierte Inklusions- und Exklusionsprozesse beschleunigte. Während der italienische Faschismus bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges dazu überging, die "ethnische Melioration", das heißt, die italienische Kolonisation der slawischen Gebiete voranzutreiben, in dem etwa Genossenschaften der slawischen Bauern zerschlagen oder die slawische Kultur zurückgedrängt wurden, wuchs auf Seiten der slowenischen und kroatischen Bevölkerung der Widerstand gegen die italienische Staatsgewalt. Eine weitere Folge war ein zunehmender Rekurs auf die eigene nationale Identität oder auf die Vereinigung der südslawischen Völker, die sich das benachbarte Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen auf die Fahne geschrieben hatte.

Im Zweiten Weltkrieg kulminierte der "italo-slawische" Konflikt in einem blutigen Abnutzungskrieg zwischen immer stärker werdenden Partisanenverbänden und einem brutalen deutschen bzw. italienischen Besatzungsregime. Sowohl der Verlauf des Partisanenkrieges als auch die "Erinnerungskultur" und "interkulturelle Praxis" der Partisanen werden in einem anderen zentralen Kapitel glänzend beschrieben.

Blutiger Abnutzungskrieg

Im übrigen nutzten insbesondere die Partisanen die verschlungenen Schlünde des Karst während des Zweiten Weltkrieges als Massengräber, um gegnerische Soldaten oder Kollaborateure verschwinden zu lassen. Sachlich setzt sich Wörsdörfer mit der antikommunistischen Legendenbildung um die Opfer der "Foibe" (lat. Höhle) in der Nachkriegszeit auseinander, denn aus der Foibe ließ sich die Italianitá, die Idee eines geeinten Italiens, für das es Opfer zu bringen lohnte, immer wieder rekonstruieren und aktualisieren.

Das Buch schließt mit dem Auszug der italienischen Bevölkerung aus Istrien und Slowenien, der zeitweiligen Besetzung Triests durch jugoslawische Partisanenverbände und deren umstrittenem Besatzungsregime. Insgesamt gelingt Wördörfer eine Pionierstudie zur "Konstruktion und Artikulation im italienisch-jugoslawischen Grenzraum", die für jeden nützlich ist, der sich dieser Region historisch und politisch nähern will. Er umschifft die Tücken einer eindimensionalen Interpretation der nationalen Frage, indem er zwischen der italienischen und der jugoslawischen Perspektive changiert, etwa, wenn er die Sichtweise der italienischen Resistenza und des jugoslawischen Volksbefreiungskampfs schildert. Überdies ist es ein glänzend geschriebenes Buch, das nur mit einem Makel behaftet ist: einem leider unvollständigen Abkürzungsverzeichnis.

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