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„Europa funktioniert nur mit starkem Zentrum“

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Von: Peter Riesbeck

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"Europa funktioniert nur mit einem starken, demokratisch legitimierten, bundesstaatlichen Zentrum, das die Politik der Mitgliedstaaten orchestriert", sagt Geert Mak.
"Europa funktioniert nur mit einem starken, demokratisch legitimierten, bundesstaatlichen Zentrum, das die Politik der Mitgliedstaaten orchestriert", sagt Geert Mak. © imago/Ralph Peters

Der Schriftsteller und Historiker Geert Mak spricht im FR-Interview über das Calimero-Syndrom seiner Heimat Niederlande und die Frage, warum die EU vielleicht zu langsam ist für die sich schneller drehende Welt.

Herr Mak, Sie haben vor der Jahrhundertwende für ein imposantes Buchprojekt eine Reise unternommen durch Europa und die europäische Geschichte. Was haben Sie dabei über Europa gelernt?
Das war 1999, das ist lange her. Damals herrschten Optimismus und Hoffnung – vor allem in Osteuropa, wo die Stimmung dominierte: Wir kehren zurück nach Europa und nun wird alles gut. Aber auch in Westeuropa ließ sich dieses Gefühl spüren. Es war eine Zeit des Aufbruchs. Es war aber auch die Zeit eines gewissen blinden Flecks. Westeuropa hat die tiefen Einschnitte der sozialistischen Jahrzehnte im Osten verkannt. Zugleich trat der Westen mit einem gewissen Triumphalismus auf. Alles ist möglich und planbar, wir wissen, wo es langgeht. Nicht allein ökonomisch. Wer sich aber damals umgesehen hat, in Bulgarien oder Rumänien, den beschlich rasch das Gefühl: Für diese Länder wird es sehr schwer, binnen weniger Jahre rein verwaltungstechnisch auf ein westliches Niveau zu kommen. Es war also eine Stimmung des Aufbruchs. Aber Unterschiede und Bruchstellen ließen sich schon erkennen. Für den Westen ging es um Freiheit, für die Staaten in Osteuropa um Sicherheit.

Die Niederländer kennen die schöne Formulierung: Wanner ging het mis? Wann fing es an, schiefzulaufen?
Im Anfang lag das Unheil. Schon an jenem regnerischen Märztag 1957 in Rom, als die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft ins Leben gerufen wurde, standen mit den sechs Gründernationen Deutschland, Frankreich, Niederlande, Belgien, Luxemburg und Italien sechs gute Feen im Raum und eine böse. Die hieß: Intergouvernementalismus. Ein schrecklich sperriges Wort, das sich am besten so umschreiben lässt: Die europäischen Staaten arbeiten zusammen, jedoch lediglich untereinander, ohne ein starkes Zentrum. Aber eine gemeinsame Währung lässt sich ohne ein starkes Zentrum nicht managen, und ein grenzenloser Raum wie Schengen kommt nicht ohne eine gemeinsame Migrationspolitik aus. Das muss Europa nun schmerzlich erfahren. Europa funktioniert nur mit einem starken, demokratisch legitimierten, bundesstaatlichen Zentrum, das die Politik der Mitgliedstaaten orchestriert. Das zeigt auch ein Blick auf Bundesstaaten wie Deutschland, Kanada, die USA oder Indien – die Föderation funktioniert nur mit einem starken Zentrum.

Die böse Fee des Nationalstaats hält sich beharrlich…
Und sie ist nicht allein geblieben. Das zeigt ein Blick auf die Flüchtlingspolitik. Weitere böse Geister sind hinzugetreten: Fehlende Solidarität etwa oder auch fehlendes Vertrauen. Bona fide – im deutschen vielleicht am besten mit dem Wort Treu und Glauben zu übersetzen – darauf kommt es an. Im echten Leben – und im Untereinander zwischen den Staaten.

Der Glaube an das europäische Projekt schwindet. Die Niederlande und Frankreich haben sich 2005 in Referenden gegen mehr Europa ausgesprochen. Woher kommt die starke Euroskepsis in Ihrem Heimatland?
Wir sind in einer misslichen Lage. Wir haben eine gewisse Calimero-Tradition, wir sind das größte unter den kleinen Ländern oder das kleinste unter den großen. Wir wissen es nicht so genau. Und unsere politische Elite weiß es leider auch nicht. Schauen wir zurück. 1831 hat sich Belgien von den Niederlanden losgesagt, danach haben wir unser Heil endgültig auf dem offenen Meer gesucht, in unserer Kolonie in Indonesien, in Großbritannien, den aufstrebenden USA. Dieses Kontinentaleuropa war uns zutiefst suspekt.

Das gilt auch für Großbritannien. Im Juni wird das Land per Referendum über seine Zukunft in Europa entscheiden. Braucht Europa das Vereinigte Königreich überhaupt?
Ja, unbedingt. Europa braucht Großbritannien, und Staaten wie die Niederlande, Dänemark oder Schweden brauchen das Vereinigte Königreich erst recht. Es ist das einzige Land, das das Machtmonopol zwischen Berlin und Paris durchbrechen kann. Es ist deshalb entscheidend für ein stabiles Gleichgewicht in der Europäischen Union. Frankreich steht für die Demokratie, für Werte wie Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, Deutschland für den Pragmatismus, die Briten für den Freihandel. Dieses schwierige Gebilde funktioniert nur im Zusammenspiel. Schlimm genug, dass Polen, das unter Donald Tusk ein wichtiger Makler in Osteuropa war, derzeit leider als politischer Spieler ausfällt. Europa mangelt es an ehrlichen Vermittlern.

Die Niederlande haben diese Rolle auch eine gewisse Zeit ausgefüllt. Nun steht im April ein Referendum an über den Freihandelsvertrag mit der Ukraine. Eigentlich eine eher nebensächliche Frage…
Aber eine wichtige. Europa ist viel zu technokratisch geworden. Die Annäherung an die Ukraine ist mehr als ein Freihandelsprojekt. Da geht es um Geopolitik. Ich weiß, dass das Wort in Deutschland mit sehr viel Vorbehalt belegt ist. Aber je mehr sich die USA zurückziehen, umso wichtiger ist es für die EU. Schauen Sie auf die Flüchtlingspolitik. Tunesien, Libyen, Ägypten, Syrien – Europa hat sich jahrzehntelang auf eine Eiserne Mauer der Tyrannen gestützt. Nun ist sie eingestürzt und Europa kämpft mit den Folgen: Eine Reihe von Failed States – gescheiterten Staaten – in seiner südlichen Nachbarschaft. In der östlichen Nachbarschaft droht Ähnliches. Auf dem Dossier „Ukraine“ müsste eigentlich ein rotes Schild leuchten: Vorsicht, zerbrechlich! Wladimir Putin ist ein durch Öl reich gewordener Tyrann, aber man kann in der Politik nicht nur mit seinen Freunden reden. Das gilt auch für Putin. Europa muss endlich lernen, geopolitisch zu denken und zu handeln.

Nochmal zurück zu einem Kernproblem von Referenden: Der Brexit in Großbritannien, in den Niederlanden das Assoziationsabkommen mit der Ukraine – gibt es Fragen, deren Konsequenzen so schwer abzusehen sind, dass sie in einem Referendum nur schwerlich zu beantworten sind?
Das glaube ich nicht. Die Frage der britischen Zukunft in der EU ist unbedingt eine Frage, die dem Volk vorgelegt werden muss. Hier geht es um eine Grundsatzentscheidung des Souveräns, die britischen Wähler müssen darüber entscheiden, wo sie ihr Land sehen wollen. In Europa oder außerhalb. Für meine Begriffe liegt ihre Zukunft in Europa. Die europäischen Staaten sind längst zu verwoben, nicht nur wirtschaftlich. Die Briten sehen das viel zu optimistisch, die EU wird ihnen nach einem als Verrat empfundenen Brexit keine Binnenmarktpartnerschaft wie Norwegen gewähren. Hinzu kommt: Schottland und Wales wollen keinen Brexit, ein Ausscheiden kann auch zum Zerfall des Vereinigten Königreichs führen. Dass David Cameron die Frage entglitten ist, zu einer Abstimmung über ihn und Boris Johnson und die Frage der Führung der britischen Konservativen, ist ein Versagen der politischen Führung.

Und das Referendum in den Niederlanden zur Ukraine?
Ist eine ganz andere Frage: Hier geht es um einen Vertrag, vierhundert Seiten trockene Rechtstexte. Schwer verständlich. Da sollten die Menschen ihren Volksvertretern, die sie gewählt haben, schon vertrauen.

Lassen Sie uns bei den Niederlanden bleiben. Das Referendum wurde von populistischen Publizisten angestrengt, einer Art rechter außerparlamentarischer Opposition gegen das Establishment. Ein transatlantisches Phänomen, wenn wir auf den republikanischen Kandidaten Donald Trump und seine Wähler in den USA schauen. Heißt es künftig nicht mehr links versus rechts, sondern unten gegen oben?
Das könnte man meinen, wenn selbst grüne Politiker für Kanzlerin Angela Merkel und ihre Flüchtlingspolitik eintreten – übrigens auch hier in den Niederlanden.

Woher speist sich dieser Unmut?
Wir leben in einer Zeitenwende. Vergleichbar vielleicht mit dem beginnenden 16. Jahrhundert. Die Erfindung des Buchdrucks erschütterte damals die Welt und revolutionierte die Öffentlichkeit. Das Wort kam heraus aus den Klostermauern. Die Reformation erschütterte die kirchliche Autorität und die e i n e Wahrheit. Einher ging die Entdeckung des Individuums. Das alles führte schließlich hin zum Zeitalter der Aufklärung und der modernen Demokratie. Nun vollzieht sich aufs Neue eine solche tektonische Verschiebung. Nur vollzieht sie sich dieses Mal viel, viel schneller. Einrichtungen wie die EU, die auf dem Fundament des Kompromisses und der Entdeckung der Langsamkeit beruhen, kommen gegen dieses Tempo nur sehr schwer an.

Eine positive Entwicklung, verbunden mit Fortschrittsglauben. Die Welt der neuen Populisten ist eine bloße Welt des Dagegen…
Ich entdecke nicht nur zerstörerische Kräfte. Wenn ich auf Spanien und Podemos schaue, die sind kritisch, aber auch konstruktiv. Und proeuropäisch. Ähnlich wie Syriza in Griechenland.

Donald Trump klingt anders...
Wir erleben eine Erschütterung der Weltordnung. Nicht nur geopolitisch. Auch technologisch. Und im Arbeitsalltag. Die Menschen spüren eine Verunsicherung und sie lassen sich durch Magier und Quacksalber verführen. Abschottung als Antwort auf eine offene Welt. Sicherheit als Antwort auf Freiheit. Der frühere Ratspräsident Herman Van Rompuy hat dazu das Bild vom Raum und Ort gebraucht. Der Raum ist die offene Gesellschaft, in einer globalisierten Welt. Aber die Menschen brauchen auch einen Ort, ein Zuhause. Das Deutsche kennt dafür den schönen Begriff Heimat. Es liegt an der politischen Führung, den Menschen wieder ein Heimatgefühl zu vermitteln. Nicht volkstümelnd, sondern im Sinne einer aufgeklärten Idee.

Fallen wir dann nicht doch wieder auf den Nationalstaat zurück?
Der Nationalstaat oder Regionalismus ist die falsche Antwort. Europa ist längst zu verwoben. Schauen Sie zurück auf die Krise 2008, als jede Regierung plötzlich anfing, ihre Autohersteller zu retten. Und sie feststellen mussten, Peugeot, Citroen und VW produzieren nicht mehr nur in Frankreich oder Deutschland, sondern in ganz Europa. In der ganzen Welt. Flüchtlingskrise, Klimapolitik, Euro – das lässt sich nur gemeinsam lösen.

In der Flüchtlingspolitik kommt Europa nur schwer voran. Wie schauen Sie jetzt auf Angela Merkel?
Mit großem Respekt vor ihrer humanitären Haltung. Und doch muss ich sagen, sie hat mit ihrer Äußerung vom vergangenen September doch auch verkannt: In einer globalisierten Welt mit Facebook und Twitter lösen solche Sätze ein Echo bis nach Afrika aus. Aber sie stellt sich ihrer Pflicht. Das ist bewundernswert.

Merkel hat es derzeit schwer in der EU. Auch, Sie hatten es angesprochen, weil in Europa echte Makler und Vermittler fehlen…
Die europäische Politik ist in einer Zwischenphase. Helmut Kohl und François Mitterrand, das waren die letzten Vertreter einer Generation, die den Krieg noch erlebt hat und für die Frieden ein großes Ziel war. Die jetzige Generation ist mit vielen Selbstverständlichkeiten aufgewachsen, und dem Triumphgefühl des Neoliberalismus. Schauen wir auf die USA und die jungen Wähler von Bernie Sanders, dann lässt sich beobachten: der Zweifel an der rein ökonomischen Machbarkeit wächst. In Europa entspricht den Millennials die Generation Erasmus: sie hat Europa als grenzenlosen Kontinent erfahren. Ich hoffe, sie will das erhalten. Mein Blick auf Podemos bestärkt mich in dieser Haltung.

In einem Satz: Warum brauchen wir Europa?
Die Niederlande, aber auch Frankreich und Deutschland sind in einer globalisierten Welt doch kleine Spieler. Ohne EU sind wir, wie das die Flamen so schön sagen, Vögel für die Katz. Wir können die Probleme nur gemeinsam lösen. Mit Solidarität und Bona fide – Treu und Glauben.

Interview: Peter Riesbeck

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