Erzähler im Bauwagen
Jirí Kratochvils heitere Parabel über einen "traurigen Gott"
Von NICOLE HENNEBERG
Wir befinden uns im Jahr 1991, irgendwo im tschechischen Hochgebirge. Auf einem steinigen Gipfel, unterhalb einer wunderschönen Bergkiefer, haust der alte Freund von Jirí Kratochvil, der Gott des Erzählens, in einem schäbigen Bauwagen. Die Räder sind mit Brettern festgestellt: Von hier wird nicht so leicht wegzukommen sein. Davon handelt, unter anderem, diese Geschichte. Sie heißt Der traurige Gott, und schon der Titel führt uns an der Nase herum: Denn dieser Gott ist ein Schelm, der aus traurigen Szenen groteske hervorzaubert und umgekehrt, bis einem Hören und Sehen vergehen. Den Helden des Buches, Aleš, lässt er auf der Flucht vor seiner diktatorischen Familie durchs Land irren, bis der nicht mehr weiß, wer er ist und ob er überhaupt jemand ist. Dann holt Gott zum entscheidenden Schlag aus.
Jirí Kratochvil, der 1940 im tschechischen Brünn geboren wurde, wo er heute noch lebt und wo auch die meisten seiner Romane spielen, ist ein listiger Erzähler, der die Gegenwart erhellt, indem er die Vergangenheit durch sie hindurchpresst wie durch ein Nadelöhr. In seinem 2000 erschienen großen Roman Unsterbliche Geschichte durchlebt seine Hauptfigur Sonja das ganze, verheerende 20. Jahrhundert als eine Abfolge von Gewalt und Verbrechen, die sich, von Brünn aus gesehen, in Wien, "der Versuchsstation des Weltunterganges", bündeln. Dieses Wien hat Sonja als Kind aus Apothekenschachteln nachgebaut, und ihre Reisen in die österreichisch-ungarische Hauptstadt enden verhexterweise stets zwischen den Namenszügen von Schlaf- oder Abführmitteln.
Auch in seinem neuen Buch (in Brünn 2000 erschienen) erzählt Jirí Kratochvil sarkastisch und leicht von Gewalt und Verbrechen, diesmal in Gestalt einer eindringlichen Parabel, deren knappe Sätze gleichsam die Quintessenz seiner früheren, barock inszenierten Romane enthalten. Die Grundfrage ist die gleiche geblieben: Wie lässt sich die grausame Absurdität des 20. Jahrhunderts verstehen und wie ist, als deren Ergebnis, die heutige Welt beschaffen?
Kratochvils Hauptfigur Aleš ist nicht zuletzt aus Protest gegen seine Familie Dissident geworden. Als er seine Stelle als Bibliothekar wegen "politischer Unzuverlässigkeit" verliert, verzichtet er auf jegliche Protektion und schlägt sich als Hilfsarbeiter durch. Seine Familie dagegen weiß sich mit jedem Regime und jeder Situation zu arrangieren: Sie spielt das wichtigste Spiel dieser Welt, das Macht-Spiel, mit Bravour und hat ihre Leute nicht nur in der Partei untergebracht, sondern auch in den Leitungsgremien der psychiatrischen Kliniken, in der Kirche und sogar in Emigranten-Kreisen. Das Oberhaupt dieses straff organisierten Mafiaclans wird "Seelchen" genannt - es könnte auch "Väterchen" heißen.
Doch das Besondere an Jirí Kratochvils Geschichte ist, dass sie jenseits dieser offenen Machtausübung erst wirklich in Fahrt kommt. So zeigt sich Aleš, trotz aller Verweigerung, die er und seine Frau Lucie praktizieren, bald als typischer Jordan, der stolz darauf ist, durch jede Pore seiner Haut für die gerechte Sache zu atmen; folgerichtig will ihn die clevere Familie nach der Wende zum neuen Boss küren, schließlich war er Seelchens Lieblingsneffe.
Der Erzähler amüsiert sich über die Verzweiflung seines Helden, der es nicht fassen kann, dass sich die Machtverhältnisse durch die Wende kaum geändert haben, und so darf Aleš mit göttlicher Protektion vor seinen Erinnerungen fliehen. Doch mit jeder Schicht, die er abwirft, wird er im Fluss des Erzählens undeutlicher. Schließlich stolpert er, "nirgendwoher, niemand, nigendwohin", in die böseste Episode des Romans: Mitten im Wald entdeckt er eine Räuberhöhle, die sich als aufgegebene Gedenkstätte für die tschechischen Partisanen des Zweiten Weltkrieges entpuppt. Dort entgeht er nur knapp der Kastration und entwickelt eine Theorie: "Das, was in kleinen Gesellschaften als bizarr, monströs und nur als Karikatur der Wirklichkeit erscheint, ist in großen Gesellschaften völlig normal und selbstverständlich …".
Am Schluss dieser raffinierten Parabel wird deutlich, dass sie auch eine über die anarchischen Kräfte des Erzählens ist. Der Gott erwartet Aleš vor seinem Bauwagen, gegenüber einer Nebelwand. Es ist ein programmatischer Ort, nicht weit von Daniela Hodrovás Wolschaner Reich entfernt: Dort treffen sich Götter und Menschen, Lebende und Tote als Grenzgänger, um einander in ihrer Sehnsucht und Verwirrung beizustehen. Doch dazu hat Kratochvils Erzählgott diesmal keine Lust. Er lässt den erschöpften Aleš an diesem mythischen Ort verdämmern und lebt an dessen Stelle sein dummes, kleines Leben weiter; ein Coup, an dem er "eine schweinische Freude" hat.
Jirí Kratochvil: "Der traurige Gott". Roman. Aus dem Tschechischen von Kathrin Liedtke und Milka Vagadayová. Ammann Verlag, Zürich 2005, 192 Seiten, 18,90 Euro.