Endstation Mythos

Sie sind wieder da - die deutschen Heimatvertriebenen. Doch was öffentlich diskutiert wird, schafft nicht unbedingt Klarheit
"Das Gedächtnis ist nicht ein Instrument zur Erkundung der Vergangenheit, sondern deren Schauplatz", so schrieb einst Walter Benjamin. Erinnerung, um als solche erscheinen zu können, bedarf stets des Vehikels einer je aktuellen Gegenwart; und das Erinnerte wird niemals das wiederkehrend Einstige sein, sondern allenfalls eine Schimäre dessen; zersplittert, fragmentarisch moduliert, um nicht zu sagen manipuliert von allen gegenwärtigen Interessen, die ihrerseits Erinnerung provozieren. Das heißt, Erinnerung lässt sich nicht verordnen; sie beginnt jenseits der Denkmäler.
Das macht Erinnerung zum einen kostbar, zum anderen gefährlich. Daher gelten ihr die vielfältigen Entwertungsversuche - zuallererst die des Sentimentalen und des Kitsches. Denn alle Zukunft ist zum bedeutenden Teil stets auch Beute der Vergangenheit; wer über Vergangenheit spricht, der spricht sofort über Gegenwart und Zukunft, und was als zukunftstauglich gilt und was nicht, das läuft stets aufs handfeste Machtkalkül hinaus.
Geboren 1953, habe ich die Wahrheit des Benjaminschen Satzes von frühan erlebt: in den Erzählungen, insbesondere der Großeltern, über deren Vertreibung aus dem Sudetenland. Nahezu der gesamte Alltag fand im innerfamiliären Raum sich verwoben mit dieser Thematik. So entstand mir über die Jahre eine vielschichtige Familienerzählung, ein kleines Archiv. Später kam ein Wissen aus den übrigen, den größeren Archiven hinzu. Mit dem Wissenszuwachs durch Informationen wächst stets auch die Notwendigkeit zu deren Kritik. Hieraus folgen Ansichten, die ich nicht als unumstößlich wahr, sondern vielmehr als Ergebnisse eigener Beobachtungen verstanden wissen möchte.
Zu den ideologischen Verzerrungen der Informationen über Kriegsverbrechen und Vertreibungen gehört neben der Instrumentalisierung zuvorderst die Vereinfachung. Zunächst war die Vertriebenenproblematik durchaus Gegenstand offizieller Geschichtsbetrachtung; sie hatte ihr Potenzial an Störung im politisch korrekten Geschichtsbildungsprozess in der Nachkriegszeit noch nicht entfaltet. Ein Beleg dafür ist nicht zuletzt die gesamtdeutsche Literatur aus dieser Zeit, und keineswegs jene aus landsmannschaftlich gestimmten Nischen. Bei Uwe Johnson oder Walter Kempowski, bei Erwin Strittmatter oder bei Christa Wolf, Heinrich Böll oder Arno Schmidt schreiben sich zu diesem Thema durch die unterschiedlichsten Werke deutliche Spuren; denen widerfuhr in der Rezeption selten Aufmerksamkeit. Dies deutete einen Wendepunkt an. Neben der allfälligen Gleichgültigkeit von Menschen gegenüber dem Leid ihrer Nachbarn dürften die Gründe für das Desinteresse am Vertriebenenthema vor allem an der sozialen Umorientierung in den sogenannten Wiederaufbau-Jahren liegen.
Ausgehend von der Formel vom "Gerechten Krieg" gegen Nazi-Deutschland folgt, stark verkürzt gesagt, daraus mit eigener Logik die Inkriminierung eines ganzen, zum "Absoluten Feind" (Carl Schmitt) gemachten Volkes mit dem Ziel von dessen physischer Vernichtung gemäß eines zum Tod verurteilten Verbrechers.
In allen Kriegen zwingt dasjenige Feindesmuster mit dem größten Vernichtungspotenzial schließlich allen Kriegsparteien genau dieses Muster auf. Und sobald eine der beteiligten Seiten Krieg zum Totalen Krieg ausruft, indem das NS-Regime den Krieg zum Völkermord erweiterte, dann werden auch die Gegenseiten von den Mustern solcher Totalität erfasst. Hierher gehören insbesondere das moral bombing, wie insgesamt der Bombenkrieg alliierter Streitkräfte gegen die deutsche Zivilbevölkerung. Das hierfür maßgebliche Rechtsempfinden beruhte auf einem kruden Gut/Böse-Dualismus, dem das moralische Einrasten in Opfer- und Täter-Volk und später dann der Kanon von der Kollektivschuld des deutschen Volkes an den Verbrechen des NS-Regimes folgten. So die eindimensionale Wahrheit.
Und obwohl in West und Ost auf unterschiedliche Weise daraus verschiedene neue Identitäten entstanden, zeitigten sie in einer Hinsicht das gleiche Resultat: gesellschaftsweites Ausblenden der Vertriebenenthematik, mit Ausnahme der oben benannten Nischen. Denen sollte dieses Thema zugewiesen bleiben bis auf den heutigen Tag.
Denn die so installierte eindimensionale Wahrheit sah sich durch die Vertriebenenproblematik empfindlich gestört; diese nämlich hätte von jeher ein differenziertes Bild über Vorkommnisse während des Kriegs und der Zeit danach entwerfen können. Wahrheit aber ist selten eindimensional, denn "Warum soll ich auf einer Seite sein? Was ich weiß, hat mehr als nur zwei", schrieb Uwe Johnson in den Jahrestagen.
Indes folgte der einen Simplifizierung die nächste, und die Verkettung von so erschaffenen Schablonen stellte gewissermaßen eine Produktion für Geschichts-Fertigteile zum gesellschaftlichen Gebrauch bereit, deren Endprodukt war Parteilichkeit, also Unrecht. Daraus aber bezogen die Besitzer der Geschichts-Produktionsmittel ihren Profit - mitunter bis heute.
Hinsichtlich dieser Vertreibungsthematik werde ich nicht müde zu betonen, dass dies nach Kriegsende in der Gesellschaft niemals ein Tabu darstellte. Nein, eher schlimmer: Denn ein Tabu, bei einiger Courage, lässt sich erfolgreich brechen. Wie aber ist es um Themen bestellt, die gesellschaftlich ungelitten sind und demzufolge kaum jemand etwas von den Erfahrungen derer hören will, die selbst ihrer Lebenszeit, dem einzig echten Eigentum des Menschen, enteignet wurden? Und wie ist es um die Nachkommen der Vertriebenen bestellt, denen somit ihre Herkunft oftmals unerschließbar bleiben musste?
In den westalliierten Zonen Deutschlands bezeigt die Ungelittenheit der Vertriebenenthematik ihre Quelle hinsichtlich einer vielleicht einmaligen politischen wie massenpsychologischen Konstellation. Aufbauend auf einer Verwobenheit von Ethik, Ökonomie und Politik ließ sich hier ein "Wirtschaftswunder" installieren, das, wie erwähnt, auf einem kollektiven Schuldbekenntnis zu den NS-Verbrechen basierte, wobei - und das ist die eigentliche Besonderheit - des einzelnen wahre Meinung zum Schuldproblem weitgehend unbefragt blieb. Nicht selten fanden so ehemalige NS-Parteigänger und noch immer überzeugte Nationalsozialisten die Weiterführung ihrer Berufskarrieren, solange sie, wie alle anderen, verbal und habituell die Charaktermaske Schuld herzeigten, um am gesellschaftlichen Wohlstand privaten Anteil zu haben.
Hierbei störten freilich auch die Erzählungen von den Vertreibungen. Zudem bestand nicht selten in der Bevölkerung des ehemaligen "Altreichs" die Meinung, die Vertriebenen, insbesondere die Sudetendeutschen, trügen an ihrem Schicksal selber Schuld, und ihnen als des "Führers" vermeintlich ergebenste Gefolgschaft geschähe nun vergeltendes Recht. Auch jener späterhin in Westdeutschland geleistete "Lastenausgleich" für die Vertriebenen sollte diese Thematik genau mit den Hilfsmitteln der Ökonomie bereinigen, wie eine Schamkultur mit dem wirtschaftlichen und politischen Erstarken der Bundesrepublik sich etablieren konnte.
Bei Schuldkultur versus Schamkultur, um diese von Helmut Lethen in seinem Buch Verhaltenslehren der Kälte verwendeten Termini aufzugreifen, verfügt erstere die Internalisierung von Normen zum individuellen Gewissen, während letztere die Normen in Konventionen gesichert sieht. Schuldkultur sucht nach verborgenen Absichten oder unbewussten Motiven des Einzelnen in der Gesellschaft; Schamkultur nach sichtbaren sozialen Effekten. Hieraus wiederum die erste ihr Ziel im guten Gewissen erkennt; Schamkultur im angemessenen, öffentlichen Betragen.
Vor diesem Hintergrund, will mir scheinen, war und ist die Bereitschaft, dem Kanon von der Kollektivschuld des deutschen Volkes an den Verbrechen des NS-Regimes sich zu unterstellen, an den privaten Wohlstand in der jeweiligen bundesdeutschen Gegenwart unmittelbar gekoppelt. Denn seit Beginn der 1990er Jahre in immer größeren Bereichen der Gesellschaft ebendieser Wohlstand zu bröckeln beginnt, die sozialen Systeme, mehr und mehr aufgegeben, ihre Wirksamkeit einbüßen, sehe ich die erwähnte Schuld-Bereitschaft im selben Maße schwinden. Daher mag heutzutage in den Villen von Berlin-Dahlem oder München-Grünwald man sich schuldiger fühlen, als in den Scharen Arbeitsloser auf den Fluren der Sozialämter.
Qualitativ anders geartet war die Entwicklung derselben Problematik in der SBZ und später in der DDR. Ein "Wirtschaftswunder" im westlichen Sinn blieb der Bevölkerung des Ostens bekanntlich erspart. An dessen Stelle, und durchaus dem Katalog der Schuldkultur entnommen, setzte die staatliche Propaganda etwas anderes: Per definitionem wurde das umfassende Erbe allein des antifaschistischen Widerstands, insbesondere des proletarisch-kommunistischen, für sich in Beschlag genommen und damit die Legende vom "besseren deutschen Staat mit den besseren Menschen" in die Welt gesetzt. Dass damit vorrangig materielle Interessen verbunden waren - so z. B. weder Reparationsleistungen an den Staat Israel, wie das die Bundesrepublik getan hatte, noch jener "Lastenausgleich" für Vertriebene -, liegt auf der Hand.
Mit dem Zusammenbruch des Staatsgehäuses DDR im Jahr 1989 freilich brach auch jene Legende vom "besseren Staat mit den besseren Menschen" zusammen. Und so ist es für mich erstaunlich zu sehen, wie tief diese Erfindung in nicht unbeträchtlichen Teilen der DDR-Bevölkerung als identitätsstiftend offenbar hatte greifen können, denn ein gehöriges Maß an mentalem Unmut jener in der DDR sozialisierten Menschen unter gegenwärtigen Lebensbedingungen sehe ich herrühren aus ebenjener Entwertung.
Hierunter nimmt zuallererst Schaden die Erinnerung, Hauptbestandteil vermittelbarer Erfahrung. Denn die Verhaltenskodizes sowohl der Schuld- als auch der Schamkultur betrachte ich durch ihre Verschränkung mit der Macht - erstere von den Ritualen öffentlicher "Kritik und Selbstkritik" bis zu den Schauprozessen vor Tribunalen; letztere durch kalkulierte Selbstpreisgabe ans Business - heute gleichermaßen als diskreditiert; sie haben in der ihnen eigenen Dialektik vom Nutzen zum Schaden an ebendiese sich verloren. So ist derzeit kaum etwas anderes in so tiefe Armut getrieben wie die Mitteilbarkeit von Erfahrung.
Nach dem Ende des Kalten Kriegs öffneten sich Archive - vom Vatikan bis zum KGB -, die zuvor selbst Forschern verschlossen geblieben waren. Fortan gerieten die Blicke auf Historie umfassender, die Resultate im Bereich der Literaturen oft genauer.
Seit einigen Jahren nun steht das Vertriebenenthema im öffentlichen Interesse. Mit dieser veränderten Optik tun sämtliche althergebrachten, lieb und auch teuer gewordenen Denkweisen und öffentlich eingeübten Diskurse sich schwer. Im Degout des Revanchismus verortet, sucht man zuweilen bei diesem Thema nach einer zwischen alter Ungelittenheit und neuer Offenheit tastenden Verbalität. So kehrt etwa die Behauptung wieder, wonach die Mehrheit der Sudetendeutschen Parteigänger Hitlers gewesen sei. Tatsächlich, wie Statistiken bezeugen, war 1942 im Sudeten-Gau die NSDAP-Mitgliedschaft mit 17,34 Prozent der Bevölkerung relativ hoch, von Mehrheit aber kann dabei wohl keine Rede sein. Desweiteren wird wieder von Flüchtlingen und Umsiedlern statt von Vertriebenen gesprochen, was fälschlicherweise die Freiwilligkeit zum Landverlassen unterstellt. Vor allem sehe ich Versuche, das Interesse der Öffentlichkeit, insbesondere für entsprechend thematisierte Literatur, durch Theorien zu kanalisieren und in akademische Diskurse umzulenken, mit Besorgnis; erneuerte Ungelittenheit dieses Themas scheint sich anzudeuten.
Besonders deutlich wird dieser Umstand in einem Aufsatz von Aleida Assmann, "Funke einer gesamtgesellschaftlichen Erregung", in der FR vom 3. Februar 2004. Darin bildet den Ausgangspunkt das Konstatieren gegenwärtiger Rückkehr von Erinnerung an das Leid der deutschen Bevölkerung während des 2. Weltkriegs; dem folgen Mutmaßungen über die emotionale Neubewertung dieses Leids anhand eines umorientierten Gedächtnisses in der deutschen Bevölkerung heute. In dieser sonst sehr guten Arbeit findet sich dann leider auch die Bemerkung, "die enthusiastische Rezeption" eines meiner Bücher spräche "für die Bedeutung der Opfergeschichte" (der Vertriebenen) "als neuer nationaler Mythos, der Ost und West verbindet". Schwerlich. Denn abgesehen davon, dass ein literarisches wie jedes andere ästhetische Werk durch seine Eigengesetzlichkeit zur Untermauerung außerästhetischer Theorien prinzipiell untauglich ist, stellt ein Mythos bekanntermaßen eine enthistorisierte, aus den Zeitläuften herausgenommene, verewiglichte Erzählung dar.
Doch die erzählten Geschichten über Vertreibungen sind gerade keine Mythen! Vielmehr geht es um das Aufzeigen der Verschränkungen von Historie eines Landes, einer Nation mit der Geschichte von Einzelmenschen und deren Familien. Angesichts von Krieg, Genozid, Vertreibungen erweist die fatale Aufrechnung Schuld gegen Schuld, Leid für Leid ihre historische, moralische und politische Untauglichkeit; damit kommt man heute keinen Schritt weiter. Richtet sich der Blick dagegen auf Machteffekte und Akzeptabilitätsbedingungen für alles Unakzeptable in den historischen Vorkommnissen - dazu gehören auch die Vertreibungen -, so wird man die Mechanismen der Macht erkennen, wofür keinerlei Apriori jemals existiert. Das aber sind sämtlich politische und historische Prozesse mit konkreten Verantwortlichkeiten, und keine Mythen.
Überhaupt kann ich nicht erkennen, dass im Deutschland des 21. Jahrhunderts ein Bedürfnis nach gesellschaftsweit verbindenden Mythen bestünde. Ob man das betrauert oder gutheißt, ist ohne Belang. Die aktuelle Gesellschaft scheint mir in partikulare Interessengruppen mit unterschiedlichsten Orientierungshorizonten sowie in divergierende Mikro-Sozietäten viel zu weit aufgefächert, um darauf irgendeinen gesamtnationalen Mythos installieren zu können. Es sei denn, man redet ihn mit aller medialen Gewalt herbei. Der bekannte Ausspruch von Niklas Luhmann, wonach all unser Wissen von der Welt aus den Medien stamme, enthält damit auch eine neuerliche Aufforderung zur Kritik sowohl an diesem Wissen wie an den Medien.
Was aber tun? Wie öffentlich erinnern, wenn viele der Mittel und Wege von Anbeginn entwertet oder von kritisch bis hypokritisch als untauglich sich erweisen und verdächtig machen? Mit welchen Medien sollte Erinnerung besser gelingen?
Zumindest nicht vorrangig mit Bildmedien, dem erwiesenermaßen fälschungsintensivsten Medium; auch mit keinen sogenannt neuen Medien oder deren nur soviele, wie sie ein sehr altes Medium unterstützen und befördern: das geschriebene Wort. Unsere Kultur beruht bekanntermaßen voll und ganz auf der Verschriftlichung; die Archive über alle entscheidenden Kulturtriumphe wie Kulturdefekte, zu letzteren zählen Genozid und Vertreibung, sind reichlich gefüllt. Das Wissen im Wort ist das einzige Medium, Historisches auf seine Machteffekte hin zu untersuchen, um alles bisweilen noch in der Lähmung des Schreckens verhaltene, stumme Wissen in distinkter, ideologiefreier Weise als Erfahrung sprechbar zu machen. Dafür ist vor allem Zeit erforderlich. Diejenigen, die mit dem Wort sich beschäftigen - Historiker, Philosophen, Soziologen, Literaten -, sollten diese Zeit in Anspruch nehmen; das käme der Gegenwart zugute.