Elisabeth Wellershaus „Wo die Fremde beginnt“: Das große und das kleine Einmaleins der Exklusion

Elisabeth Wellershaus lotet in einem hochreflektierten Selbstversuch aus, „Wo die Fremde beginnt“
Noch gibt es diesen Ort für die Schwarze Journalistin Elisabeth Wellershaus wohl nur im Traum: Eine Alters-WG unter Freunden, in der Zugehörigkeit keine Frage der Anpassung mehr ist und die flexiblen Identitäten der Autorin keiner Erklärung bedürfen. In ihrem für den Deutschen Sachbuchpreis nominierten Werk „Wo die Fremde beginnt. Über Identität in der fragilen Gegenwart“ durchleuchtet die Tochter eines aus Äquatorialguinea stammenden Vaters und einer norddeutschen Mutter 50 Jahrzehnte ihres Lebens in einer Gesellschaft, die sie mehrheitlich als nicht zugehörig wahrnimmt. Den Blick richtet Elisabeth Wellershaus in einzelnen Kapiteln auf Bereiche wie Familie, Arbeit, Nachbarschaft, Stadtleben und Freundeskreise.
Aufgewachsen ist die 1974 geborene Autorin an der Seite weltoffener Großeltern und ihrer Mutter im bürgerlichen Hamburger Vorort Volksdorf, die Sommerferien verbrachten Mutter und Tochter stets bei dem an der spanischen Costa del Sol lebenden Vater. Weltgewandtheit und ein flexibler Lebensstil hatte in dieser Familie bereits seit langem Tradition. Als Kapitän war der aus Westfalen stammende Großvater über die Meere gefahren, während die Großmutter ihre Familie mit Toleranz und Weitblick erzog und später gegen skeptische Blicke abschirmte.
Als die Großeltern starben, traf die Teenagerin ein ausgefeiltes System der Exklusion mit voller Wucht. Haartyp, Hautton und Lebensstil passten nicht zur, wie sie schreibt, geballten Kraft weißer Wohlstandshomogenität im Villenviertel. Zu oft wurde sie bereits an ihrem Heimatort abgewiesen, Vertrauen entstand nur an Orten, wo man ebenfalls „aus dem Rahmen“ fiel. „Das Fremdeln aus Kindertagen sitzt tief.“
Diese Erlebnisse sind kein Einzelfall. Wie in einer Metastudie führt die Autorin Ergebnisse wissenschaftlicher Studien und Passagen aus literarischen Werken zusammen, um selbst gemachte Beobachtungen aus anderer Sicht zu überprüfen oder mit prägnanten Worten zu vertiefen. Dieser multiperspektivische Ansatz führt ihre autobiografische Herangehensweise in die Weite und ermöglicht einen beeindruckend detaillierten Blick auf die Instrumente einer noch immer tief rassistischen Gesellschaft.
Selbst Privilegien schützen vor dieser Haltung nicht, erklärt die Autorin Zadie Smith in einer im Buch zitierten Rede. Denn selbst wenn man den „richtigen“ Pass hat und nationale Grenzen überwinden kann, wenn man Literaturpreise gewinnt und in Cambridge studiert hat, wenn man also über das beste Rüstzeug verfügt, ist man in einer weißen Dominanzgesellschaft nicht zuverlässig vor Exklusion und Diskriminierung geschützt. Immer wieder stellt Wellershaus darum die zentralen Fragen: „Wo gibt es Räume, in denen Vielfalt sich nicht mehr erklären und nicht mehr verleugnen muss?“ und „Wo gehört eine Schwarze Frau dazu und wird nicht von einer zähen Dominanzkultur als nicht-zugehörig definiert?“
Die Suche nach Orten, die Diversität ins Positive wenden, ist eine Art komplementärer Leitfaden zur titelgebenden Frage: „Wo beginnt die Fremde“. Bis heute ist es der Moment, an dem eine Schwarze Person, die nicht unauffällig ins Mehrheitsmilieu eintauchen kann, die Haustür öffnet und öffentlichen Raum betritt. Routinemäßig überlegt man sich dann selbst im sichersten Hamburger Einfamilienwohngebiet, gegen welch spontane Aggressionen es sich zu wappnen gilt.
Das Buch:
Elisabeth Wellershaus: Wo die Fremde beginnt: Über Identität in der fragilen Gegenwart. C.H Beck, München 2023. 158 S., 22 Euro.
Unerwartete Exklusion beschreibt Wellershaus auch im Arbeitsbereich als Journalistin. Während einer Pressereise nach Südafrika erlebt sie, wie ihre zur Begrüßung lächelnd gereichte Hand von der Mitarbeiterin des Außenministeriums zunächst stur ignoriert wird. Erst, als diese Mitarbeiterin begreift, dass der Name der vor ihr stehenden Journalistin Wellershaus auf ihrer Presseliste steht, entschuldigt sie sich: „Mit Schwarzen Deutschen habe ich nicht gerechnet“.
Die Reise nach Südafrika, die nach der Jahrtausendwende stattfand, habe sie verändert, schreibt Elisabeth Wellershaus. Nach diesem Erlebnis kämpft sie entschiedener gegen das schleichende Gift der Ausgrenzung. „Ich hinterfrage Negativkonnotationen, die wie Pech am Begriff des Fremden zu kleben scheinen.“
Das scheint einfacher zu sein, wenn es um das „große Einmaleins der Exklusion“ geht, doch gibt es auch, so Wellershaus, ein kleines Einmaleins. Zwar habe sich der Umgang mit Diversität verändert, doch bleibe ein hartnäckiger Widerstand in der Gesellschaft zurück: „Einer der gegen die immer lauteren Forderungen nach Gleichberechtigung und Teilhabe rebelliert.“
Das Buch ist Ergebnis eines Selbstversuchs. Es analysiert anhand des eigenen Lebenswegs die toxische Wirkung herabwürdigender Gesten und Umgangsformen. Entstanden ist ein fein gewobener Text, der zwar auf autobiografischem Fundament aufsetzt, diesen subjektiven Ansatz jedoch in einen komplexen wissenschaftlichen und literarischen Kontext einbettet. „Irgendeinen Preis zahlt wahrscheinlich jede:r für das Gefühl von Zugehörigkeit“, heißt es im ersten Kapitel, das „Überall“ überschrieben ist. Im letzten Kapitel, dem „Passing“, das heißt dem Generationen- und Statuswechsel gewidmet, spricht die Autorin vom Mythos einer farbenblinden Gesellschaft. Noch immer irritiert eine Schwarze Mutter ihr deutsches Umfeld, wenn sie bei der Geburt ihres Kindes ein weißes Baby in den Armen hält. Menschliches Leben folgt seinen eigenen Pfaden. „Wir müssen Unterschiede aushalten“, heißt es in den Worten von Toni Morrison, „ohne die Abweichungen des anderen zum Vorwand für Abwertung zu nehmen.“
Elisabeth Wellershaus: Wo die Fremde beginnt: Über Identität in der fragilen Gegenwart. C.H Beck, München 2023. 158 S., 22 Euro.