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„Einübung ins Schweben“ von Dževad Karahasan: „Wir haben hier und jetzt das Recht auf alles“

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Sarajewo im ersten Sommer der Belagerung, 1992. Foto: Georges Gobet/afp
Sarajewo im ersten Sommer der Belagerung, 1992. Foto: Georges Gobet/afp © afp

Selbsterfahrung in der Hölle. Dževad Karahasans Sarajewo-Roman „Einübung ins Schweben“. Von Malte Osterloh

Das Böse ist nicht banal, aber originell ist es auch nicht: „So gingen sie immer vor, auf dieselbe Stelle feuerten sie ein paar Minuten nach der ersten Granate eine zweite ab, um mit der zweiten die Leute zu töten, die den Menschen, die bei der ersten verunglückt waren, zu Hilfe eilten.“ Die Mordtaktik der bosnisch-serbischen Artillerie während der Belagerung Sarajewos, die Dževad Karahasan in seinem neuen Roman „Einübung ins Schweben“ beschreibt, wird derzeit von der russischen Armee in der Ukraine angewendet. Grausamkeit pflegt ihre eigenen Traditionen.

Über drei Jahre dauerte die Belagerung der Hauptstadt von Bosnien und Herzegowina, bis im August 1995 Nato-Bomber begannen, das serbische Militär aus den Bergen zu vertreiben, die die Stadt umgeben. In der Anfangszeit dieser Belagerung spielt Einübung ins Schweben. Der Waliser Peter Hurd, eine Koryphäe der Altphilologie, ist kurz zuvor in Sarajewo eingetroffen, um seinen Freund und den Schriftsteller Rajko Šurup zu besuchen, den Erzähler der Geschichte. Eigentlich will Hurd mit einem der letzten Busse vernünftigerweise noch die Stadt verlassen. Da er am Busbahnhof Zeuge eines Streits über Zahl der Koffer wird, die man mitnehmen darf, beschließt er, in der Stadt zu bleiben, „weil ich zum ersten Mal Gelegenheit habe, etwas länger in Grenzsituationen zu leben. Hier kann ich mein wirkliches Selbst kennenlernen, kann die Authentizität entdecken, kann entdecken und begreifen, wer ich bin und wie ich tatsächlich bin.“

Heißt es bei Platon, dass ein selbsterforschtes Leben nicht wert sei, gelebt zu werden, lässt sich Hurd von dem modernen Credo der Erfahrung als einzig wahrem Erkenntnismittel leiten: Statt vita contemplativa vita activa. Dass er für sein Selbsterfahrungsvorhaben ein Kriegsgebiet wählt, in dem er sich als Tourist aufhält, macht dieses Unterfangen besonders unappetitlich.

„‚Willst Du in Deiner Hölle mein Vergil sein?‘“ fragt Hurd Surup – dessen Vorname auf Bosnisch Paradies bedeutet – in Anspielung auf Dantes Göttliche Komödie. Und es ist eine Hölle: „Es brannten das Gebäude des Roten Kreuzes und das Kino Sutjeska, es brannte der Müll in den Metallcontainern hinter den Gebäuden, es brannte auch das Holz neben den Containern.“ Menschen werden mitten auf der Straße von Mörsergranaten zerfetzt, Scharfschützen schießen wahllos auf Zivilisten und Zivilistinnen, ein junger Mann transportiert den beinlosen Leichnam seines Bruders in einer Schubkarre, ein alter Mann beißt (!) sich aus Verzweiflung über den Tod mehrerer Kinder die Pulsadern auf.

Lange verlässt sich Hurd nicht auf seinen Höllenführer, zieht allein durch die Stadt und übt sich in einer ganz bestimmten Form des Schwebens: dem Drogenkonsum, dem sich ein Großteil der Bürger der Stadt hingibt, versorgt durch dänische UN-Soldaten.

Das buch

Dževad Karahasan: Einübung ins Schweben. Roman. A. d. Bosn. v. Katharina Wolf-Grießhaber. Suhrkamp, Berlin 2023. 304 S., 25 Euro.

Hurd ist von der Hölle des Krieges begeistert: „Unter diesen Bedingungen gibt es keine Ehre, Verpflichtungen und Schranken, wir haben hier und jetzt das Recht auf alles. Die ständige und unmittelbare Gegenwart des Todes befreit den Menschen von jeder Verpflichtung, jeder Rücksicht, von allem, was ihn hemmen könnte. Das ist so aufregend.“ Diese Freiheit führt bei Hurd dann zum hemmungslosen Zynismus bis zum Kindesmissbrauch.

Hurd weiß am Ende nicht, wer er wirklich ist, aber zumindest der Leser hat ihn erkannt: Er ist ein Wiedergänger Gustav von Aschenbachs, des Protagonisten aus Thomas Manns „Tod in Venedig“: Beiden sind Koffer, die nicht an ihren Bestimmungsort gelangen, Anlass zum Bleiben in der jeweiligen Stadt, deren Gefährlichkeit ihnen bereits klar ist; beide sind hochkultiviert und berühmt; beide sind auf der Suche nach einer Grenzerfahrung und bereit, für den Rausch jegliche ethische Norm zu übertreten; beide gieren nach einem Kind; und beide zerbrechen an den Erfahrungen.

Man müsse aus der Bibliothek hinaus in die Welt gehen, sagt Hurd, „weil man in der Bibliothek liest und in der Welt lebt“. Die Intellektuellenverachtung des Intellektuellen ist immer etwas ulkig. Die Bibliothek als Metapher für Weltferne zeigt zudem, dass Hurd bei seinen Streifzügen durch Sarajewo nichts von dieser Stadtwelt verstanden hat; war doch die Universitätsbibliothek eines der ersten Ziele der serbischen Artillerie, gerade um den Lebenskern der Stadt zu treffen: ihre Erinnerung.

„Einübung ins Schweben“ ist selbst ein Beitrag zu dieser Erinnerung – wie Karahasans gesamtes Werk. Und man erfährt dort, dass auch in einem Krieg nicht alles Krieg, nicht alles eine Hölle ist. Es wird, gelacht, getanzt und geliebt; ein alter Zwetschgenbaum wird zum Symbol der Beharrlichkeit des Lebens, der Bau eines Brunnens kündet vom Glauben an eine friedliche Zukunft. Und zudem ist dieser nicht sehr lange Roman von einer Fülle an plastischen Figuren bevölkert, die einen staunen lässt. Ja, sie sind alle vom Krieg gezeichnet, doch er wird nicht Teil ihrer Persönlichkeit.

Hurd kümmert weder das Leben noch der Überlebenskampf der Bewohner Sarajewos. Ihn interessiert allein seine Selbsterfahrung. Am Ende steht der Wahnsinn. Intellektuelle, die angesichts des Krieges geistig und moralisch scheitern: Auch sie haben ihre eigene Tradition.

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