Was von einem Leben bleibt

Barbara Yelin und Thomas von Steinaecker erzählen in "Der Sommer ihres Lebens" vom Leben und Sterben einer alten Frau.
Was für ein grandioses Werk! Sehr lange schon habe ich nicht mehr eine so eine anrührende, einfühlsame und zugleich hellsichtige, kluge, dabei künstlerisch gelungene Bildergeschichte gelesen. „Der Sommer ihres Lebens“ von Barbara Yelin ist ein nur 80 Seiten schmaler Band, entwickelt aber bei der Lektüre eine unerwartet mitreißende Wucht, ein Leseerlebnis, das mich ungläubig immer wieder zu diesem Comic greifen ließ. Kann das wahr sein? Auf so wenigen Seiten eine so starke, eine so große Geschichte zu erzählen? Wie geht das?
Eine Erklärung ist wohl, dass „Der Sommer ihres Lebens“ gar keine große, sondern eine ganz kleine Geschichte erzählen will: die Geschichte vom Altern und Sterben einer einsamen Frau. Gerda Wendt lebt in einem Altersheim, körperlich ist sie nicht mehr auf der Höhe, sie fährt mit dem Rollator über die Gänge, irrt sich auch schon mal im Stockwerk, lässt sich ergeben vom Pflegepersonal durch den Tag führen. Sie wird gewaschen, in den Park gefahren, zu Bett gebracht. Es ist ein gutes Heim und Gerda geht es gut. Eigentlich.
Doch in die Alltäglichkeit ihres rundumbetreuten Daseins schleicht sich immer dringlicher die Frage ein, was von ihrem Leben geblieben ist. Gerda zieht es in die Vergangenheit. Dort fühlt sie sich lebendig, in der Gegenwart empfindet sie sich schon als tot. Scheintot: eine unbestimmte Zwischenwelt, die Yelin in ihren Zeichnungen aufscheinen lässt, hier bleibt alles zusammenhanglos und damit ohne weitere Bedeutung. In der Vergangenheit aber, in der Erinnerung leuchten die Farben in großen Erzählbögen ...
Barbara Yelins große Kunst
Wie Yelin die Rückblenden mit der Gegenwart verbindet, das eine ins andere hineinragen lässt, Übergänge und Zeitsprünge arrangiert, ist ganz große Kunst. Hier zeigt sich, wie sehr sich die Zeichnerin von ihren Anfängen in Frankreich („Le visiteur“, 2004) über ihr erstes großes Werk in Deutschland („Gift“, 2010) und die epochale Erzählung „Irmina“ (2014) weiterentwickelt hat. Die Münchner Künstlerin arbeitet seit geraumer Zeit (wieder) in Farbe, mit ihrer Aquarelltechnik fängt sie Stimmungen ein wie niemand sonst.
Ihre Könnerschaft findet mittlerweile auch international Beachtung. Yelin wurde vielfach ausgezeichnet, 2015 etwa mit dem Bayerischen Kunstförderpreis, 2016 mit Max-und-Moritz-Preis und 2017 war sie mit „Irmina“ für den Eisner Award, den Comic-Oscar, nominiert. Dennoch ist „Der Sommer ihres Lebens“ eine Überraschung: Die Geschichte hat sie ab 2015 als Webfortsetzungscomic auf dem Blog des S. Fischer Verlages „Hundertvierzehn“ veröffentlicht, aber sie in überarbeiteter Form auf Papier zu sehen, überwältigt.
Jetzt strahlen und glimmen die Farben erst richtig. Und die Geschichte in einem Rutsch lesen zu können, zeigt erst, wie sorgfältig sie komponiert ist – gewiss ein großes Verdienst des Szenaristen, des Schriftstellers und Regisseurs Thomas von Steinaecker. Denn in „Der Sommer ihres Lebens“ beschäftigt sich Yelin mit einem komplexen Frauenschicksal. Es geht um verpasste Gelegenheiten, fehlende Anerkennung, um den zähen Überlebenskampf.
Normal-außernormale fiktive Biografie einer Generation
Gerda Wendt wurde Astrophysikerin in einer Zeit, den 1960ern, in denen Frauen in den Naturwissenschaften kaum gelitten waren. Gerdas Karriere hätte sie wohl bis zu den höchsten akademischen Weihen nach Cambridge geführt, doch für die Liebe ihres Lebens steckte sie zurück, heiratete, bekam ein Kind, ließ sich scheiden, fing wieder in der Wissenschaft an ... . Die normal-außernormale fiktive Biografie einer Generation.
Yelin und Steinaecker liefern kein Lamento über Zustände in Altenheimen, über Pflegenotstände oder Altersarmut, aber auch nicht über treulose Kinder, die ihre Eltern dort nie besuchen kommen. Dergleichen politische Statements würden hier vom Thema ablenken, nämlich die Frage, was von einem Leben bleibt und ob es denn lebenswert gewesen sei. Diese Frage wird im Angesicht des Todes unabweisbar, denn jetzt, im Sterben, fällt der Mensch ganz auf sich selbst zurück.
Gerda Wendt jedenfalls gesteht sich ihre große Liebe ein, die zugleich Erfüllung und auch ein Dementi jedweden Glücks ist. Ihre große Liebe, das waren immer die Sterne: „Die sind eigentlich schon tot, die Sterne. Das, was wir sehen, ist längst vorbei.“ So geht, in seiner ganzen nüchtern-ergreifenden Alltäglichkeit, ein Leben vorüber. Einfach so.