Eine unerwartete Kränkung
Neue Hörbücher zu Romanen von Toni Morrison und Jurek Becker – dazu André Hellers Gespräche mit seiner Mutter.
Frauen an der Grenze
In der Situation, da Toni Morrison in ihrem jüngsten Roman „Gott, hilf dem Kind“ aus Brides Perspektive zu erzählen beginnt, hat die junge Frau eine Kränkung erlitten, wie sie sie nicht mehr gewohnt war. Die vorlesende Schauspielerin Nina Kunzendorf legt diese Kränkung in ihre Stimme. Es klingt Trotz darin, auch Unglaube, denn Bride ist eine erfolgreiche Geschäftsfrau, ein role model, ein it-Girl.
Bride hat gelernt, ihre schwarze Hautfarbe zu tragen wie eine Auszeichnung, mit weißer Kleidung stellt sie sie besonders heraus. Sie heißt eigentlich Lula Ann; erst mit dem selbst gewählten Namen jedoch konnte sie sich aus der Unsichtbarkeit befreien, in die ihre Mutter sie geschoben hatte. Nina Kunzendorf gibt auch Brooklyn die Stimme, Brides Freundin, der einzigen Person, die um deren Schwächen weiß. Verunsicherung schwingt mit, weil Brooklyn eine gute Freundin sein will, aber in Brides Straucheln eine Chance für sich entdeckt. Und Brides Mutter spricht hier auch, außerdem die Lehrerin, die gerade erst aus dem Knast kommt. Die Hörbuchsprecherin Nina Kunzendorf muss sich nicht verstellen. Sie ist keine Imitatorin, sondern auch hier eine Schauspielerin, eine herausragende. Sie gibt den Figuren ihren eigenen Rhythmus, der Sprache der Autorin folgend. Der Roman wird lebendig dabei.
Alterswitz und Altersweisheit
Es dauert nur ein paar Minuten, da hat man vergessen, dass auch dieses Hörbuch eigentlich die Lesung eines gedruckten, auf Papier veröffentlichten Buches ist. Für „Uhren gibt es hier nicht mehr“ hat der Wiener Allroundkünstler André Heller einige der Gespräche aufgeschrieben, die er mit seiner Mutter führte, als sie bereits 101 Jahre alt war. Sie reden über die Zeit, über die Liebe, über Männer und Frauen, über das, was das Leben ausmacht. Für das Hörbuch spricht er seine Fragen und Bemerkungen selbst.
Die Texte der Mutter liest die Burgschauspielerin Elisabeth Orth. Sie ist zwar erst 1936 geboren und damit wesentlich jünger als Elisabeth Heller, aber sie fügt sich ganz wunderbar in die lakonische Altersweisheit, Abgeklärtheit und den Witz der alten Dame. Heller und Orth harmonieren im Gespräch, sie plaudern, sie granteln und sie foppen sich. Das ist sehr unterhaltsam und übertrifft noch den Reiz des gedruckten Buchs. Denn es klingt, als würde André Heller tatsächlich mit seiner Mutter sprechen, so natürlich sind Pausen, Belustigung, Erregung und auch Abwehr integriert. Fotografien im Booklet zeigen Elisabeth Heller als eine strahlende Erscheinung, ob mit zwanzig oder mit hundert Jahren.
Ein Radio im Ghetto
„Ganz plötzlich ist morgen auch noch ein Tag“ steht auf der Papierhülle der einen CD, „Musst du mir in meinen Feierabend spucken“ auf der nächsten, schließlich: „Sein Gang erinnert irgendwie an Zuversicht“. Sehr sorgfältig gestaltet ist die Hörbuchausgabe mit der ersten vollständigen Lesung von Jurek Beckers Roman „Jakob der Lügner“. Im Booklet erzählt Christine Becker, die Witwe des Autors, von der Entstehungsgeschichte. Zwei Mal wurde das Buch, bereits 1969 erschienen, verfilmt. Doch eigentlich drängt es vor allem nach dem Vorlesen, nach dem Erzählen. Es handelt ja vom mündlichen Weitergeben von Botschaften, es ist ja gespickt mit Gesprächen, die voller Hintersinn und Witz stecken.
Jurek Becker (1937–1997) erzählt von dem Juden Jakob Heym, der im Ghetto behauptet, ein Radio zu besitzen, was unmöglich ist, weil es schlichtweg verboten ist. Der Schauspieler August Diehl liest diesen Roman, als würde er mitten im Text stehen, er wählt mal hastiges Plappern, dann den ruhigen Bericht, zwischendurch gibt er mit Stolperern, zuweilen gar mit Singsang die Atmosphäre der Zeit und der Handlung wieder. Wer diese sieben CDs hört, wird seinen eigenen Film dazu sehen.