Eine Stadt hat erhöhte Temperatur

Johannes Groschupfs „Berlin Prepper“ skizziert das düstere Bild einer Metropole, in der die Menschen sich durchkämpfen.
Es ist heiß in der Stadt, und der nicht enden wollende Sommer 2018 scheint an den Kräften zu zehren. Eine wachsende Nervosität durchzieht die sich in feinen Nuancen voneinander unterscheidenden Kieze Berlins. Walter Noack sieht genau hin bei seinen ausgedehnten Läufen um Mitternacht, er hat sie im Blick, die Party-Areale in Friedrichshain und die vagabundierenden Dealer aus dem Görlitzer Park, aber sie interessieren ihn nicht weiter. Er hält sich fit, Laufen und Schwimmen, von der Oberbaumbrücke bis zum Plänterwald.
Noack gehört einer journalistischen Putztruppe an. In dem großen Verlagshaus, dessen Ähnlichkeiten mit dem Springer-Verlag ausdrücklich gewollt sind, ist er mit einigen anderen eigens dafür angestellt, die Hasskommentare unter den Artikeln der Online-Ausgaben zu sichten und gegebenenfalls zu löschen. Der Job erfordert journalistisches Einschätzungsvermögen, permanente Aufmerksamkeit und starke Nerven. Nicht jeder hält es aus, aus der Kloake der Meinungen das herauszufischen, was über die Stränge schlägt. Jeden Tag Verschwörungstheorien, ausländerfeindliche Hetze, Merkel muss weg. Löschen, löschen, löschen.
Manchmal muss geantwortet werden, dann verwendet die Sonderabteilung der Redaktion einen Tarnnamen. Freunde machen sie sich mit ihrer Arbeit nicht, in der Kollegenhierarchie stehen Noack und Peppa, mit der er sich ein wenig angefreundet hat, weit unten. Von Peppa heißt es, sie studiere Kulturwissenschaften in Frankfurt/Oder, aber oft schiebt sie Doppelschichten – des Geldes wegen und um die Zeit rumzubringen. Auf eine berufliche Karriere sind beide nicht aus, Noack ist ein Loner, der den Job braucht. Seine Frau hat ihn verlassen, nachdem er mit einem kleinen Kramladen pleiteging, gelegentlich schaut sein Sohn Nick vorbei.
Johannes Groschupf hat in seinem als Thriller bezeichneten Roman „Berlin Prepper“ das hektisch-düstere Bild einer Metropole skizziert, deren Menschen das, was einmal Lebensstil genannt wurde, aus den Augen verloren haben. Sie sind auf Schlimmeres gefasst. Man kämpft sich durchs Leben und versucht, mit den Überforderungen und Zumutungen klarzukommen. Es ist ein schnelles und rohes Buch, das vom subtilen Witz seines Autors lebt, der mit seinem Gespür für scheinbare Nebensächlichkeiten eine flirrende Atmosphäre erzeugt.

Berlin hat erhöhte Temperatur, und einer wie Groschupfs Held Noack ist in der Lage, sie zu messen. Wenn in den Medien Gewalt und Kriminalität behandelt werden, an der Flüchtlinge beteiligt waren, steigt die Intensität der Hasskommentare sprunghaft an. Je nach Nachrichtenlage vermag Noack sein Arbeitsaufkommen vorherzusehen. Die Emotionen, die aus der digitalen Welt in seinen Alltag hereinschwappen, sind nicht die Wirklichkeit, aber doch ein Teil von ihr.
Johannes Groschupf hat lange als Journalist und Autor gearbeitet, ehe er 2005 seinen Roman „Zu weit draußen“ veröffentlichte, der von der Rückkehr ins Leben nach einem schweren Unfall handelt. Es ist auch seine Geschichte. 1995 war er als Insasse eines Hubschraubers über der Sahara abgestürzt und hatte schwere Verbrennungen erlitten. Allein seine Füße blieben vom Feuer verschont.
In dem Roman schildert er nicht nur das Leiden an den Transplantationen und der Furcht vor Ausgrenzung danach. Groschupf erzählt auch vom Scheitern seiner Ehe und dem Mut, den ihm seine Kinder mit ihrer lakonischen Art machten. Der Roman eröffnete ihm ein ganz neues Kapitel seiner Autorschaft, obwohl er bereits als junger Mann eine Art West-Berliner Berühmtheit war.
Nicht er persönlich, sondern sein Pseudonym Olga O’Groschen, unter dem er 1988 eine „Gebrauchsanweisung für Neukölln“ veröffentlicht hatte. Das kleine Bändchen war ein liebevoll-ironischer Bericht aus dem damals weitgehend vernachlässigten Berliner Bezirk, der miteinander kaum in Berührung kommende soziale Welten in sich vereinte. Die Lebenswirklichkeit türkischer und arabischer Migranten prallte hier auf ein in sich verkapseltes Kleinbürgertum sowie Studenten, die zwischen den häufigen Wohnungswechseln zum Schlafen herkamen.
Reste des muffig-heruntergekommenen Neuköllns der 80er-Jahre
Vom hippen Szenebezirk Kreuzkölln, der heute vergnügungsbereite Touristen aus ganz Europa anlockt, war damals noch nicht viel zu sehen. Eher schon lassen sich heute in den vermeintlich gentrifizierten Straßen noch immer Reste des muffig-heruntergekommenen Neuköllns der 80er-Jahre finden, das Olga O’Groschen zu seiner Abenteuerreise gleich um die Ecke animiert hatte.
Johannes Groschupfs Lust an der Beschreibung sozialer Milieus ist auch in „Berlin Prepper“ zu finden, wo all dies jedoch nicht auserzählt, sondern subtil angedeutet wird. Es gibt nichts mehr zu entdecken, die Neugier der Menschen aufeinander ist verflogen. Die wie atomisiert wirkenden Einzelnen versuchen mit sich klarzukommen, so gut es geht. Aber „Berlin Prepper“ ist keine Sozialstudie, sondern ein Thriller, und Handlung kommt auf wie ein Sturm, als Noack eines Abends beim Verlassen des Verlages einen Schlag mit einem hölzernen Gegenstand verpasst bekommt. Wenig später erwischt es auch Peppa, und die Suche nach Tätern und Motiven wird zu einer fiebrigen Durchquerung der Stadt.
Noack ist natürlich nicht der kühle Beobachter, der weiß, wie die Sache läuft. Seine Überlegenheit ist eine Illusion, sein Fitnessprogramm ist das zwanghafte Tun eines Preppers. Es geht nicht um Sport und körperliche Ertüchtigung, er gehört zu der Sorte Überlebenskünstler, die für den Ernstfall vorsorgen. In der Stadt hat Noack kleine Notlager errichtet, Verstecke, in den er Lebensmittel und Medikamente bunkert. Wenn es noch schlimmer kommt, glaubt er sich zu helfen zu wissen. Als sein Sohn in die Suche nach den Tätern hineingezogen wird, sieht er sich gezwungen, seine Deckung aufzugeben.
Soweit der Plot für Krimifreunde. „Berlin Prepper“ kann man sich auch als bildstarken „Film noir“ vorstellen, und doch leben Groschupfs Beschreibungen neben der Erzeugung von Spannung vor allem von seinem soziologischen Blick. Auf der Suche nach der Wahrheit taucht Noack ein in die Gesellschaft von Security-Leuten, die Peppa und ihn seltsamerweise nicht schützen konnten. Eine falsche Fährte führt in ein Containerdorf für Flüchtlinge gegenüber der Berlinischen Galerie. Als es an der Zeit ist, sich zu bewaffnen, geraten Peppa und er in Kontakt mit einem Schießklub in Tempelhof, der sich alsbald als verschworene Zelle von Reichsbürgern entpuppt.
In seiner beiläufigen Art, dies alles passieren zu lassen, entgeht Groschupf der Gefahr, einen bittersüßen Cocktail aus Berlin-Klischees zu mixen. Johannes Groschupf hat „Berlin Prepper“ sehr schnell geschrieben. Wie bei einer TV-Soap werden politische und gesellschaftliche Ereignisse angespielt, um den unmittelbaren Gegenwartsbezug zu markieren. Und doch weist „Berlin Prepper“ in seiner witzig-kühlen Durchdringung eines Alltags, deren Protagonisten wie in einem Kessel mit ansteigendem Druck agieren, über die Nacht an der Spree hinaus.