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"Es ist eine Katastrophe"

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Von: Harro Zimmermann

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Zum Welttag des Buches am 23. April erinnern wir an verschollene Bücherwelten: Literaturhistoriker Klaus Garber über den wenig aufgearbeiteten Untergang deutscher Bibliotheken im Zweiten Weltkrieg

Herr Garber, der Zweite Weltkrieg war auch ein Inferno für die deutsche Buch- und Bibliothekskultur. Weiß man heute einigermaßen genau, an welchen Sammelorten in Deutschland welche Schäden und Verluste entstanden sind?
Ja, die Schäden sind größtenteils bekannt, erstrecken sich über das gesamte alte deutsche Reich, von Karlsruhe bis hinauf nach Kiel, von München bis nach Königsberg. Am spektakulärsten traf es die größte deutsche Bibliothek des Reiches. Im Juli 1943 verlor allein die Hamburger Stadtbibliothek in der „Aktion Gomorrha“ 700 000 Bände. Was die einzelnen Titel selbst angeht, so fehlen entsprechende Daten vielfach noch – leider. Es gibt kein großes und exaktes Werk über die einst vorhandenen, im Zweiten Weltkrieg untergegangenen oder nicht zurückgekehrten Bücher und Bibliotheken.

Haben wir heute einen Überblick über die alten deutschen Buchschätze des Ostens, die während des Krieges vernichtet worden sind?
Sprechen wir von dem alten deutschen Osten – und nicht dem fälschlich so genannten der neuen Bundesländer, die in Mitteldeutschland liegen –, so muss man über das alte deutsche Reich hinaus in den alten deutschen Sprachraum blicken, der viel weiter ist. Die erschreckendsten Verluste haben im Osten – neben polnischen und russischen Bibliotheken – Stettin, Königsberg und Riga erlitten. Stettiner Bücher, sofern nicht vernichtet, sind vielfach nach Thorn und Warschau gekommen, Königsberger darüber hinaus vor allem nach Vilnius und St. Petersburg. Die herrliche alte Rigaer Stadtbibliothek ist von deutschen Truppen beim Einmarsch 1941 völlig zerstört worden. Der Warschauer Nationalbibliothek war ein gleiches Schicksal beschieden. So wie schon 1870 die einzigartige Straßburger Stadtbibliothek von den preußischen.

Etliche Buchbestände sind während des Krieges von Deutschland in den osteuropäischen Raum ausgelagert worden, vor allem nach Polen, Russland und in die baltischen Staaten. Was ist seit 1945 mit diesen Beständen geschehen, und an welchen Orten befinden sich diese Schätze heute?
Den größten Aderlass haben, so weit ich sehe, die drei Hansestädte – Lübeck, Hamburg, Bremen –, Leipzig und vor allem Dresden erlitten. Für die Hansestädte, aber auch für Leipzig ist die Russische Nationalbibliothek in St. Petersburg die erste Adresse, für Dresden die Lenin-Bibliothek in Moskau. Hier befinden sich erhebliche deutsche Buchbestände, die wir in Osnabrück mit dem „Handbuch“ (dem „Handbuch des personalen Gelegenheitsschrifttums in europäischen Bibliotheken und Archiven“, d. Red.) in jahrzehntelanger Arbeit erfasst und katalogisiert haben. Erst dadurch wird die geistige Physiognomie der deutschen Kultur des Ostens wieder wahrnehmbar. Vor allem die osteuropäischen Stadtbibliotheken bildeten mehr noch als die kommunalen Archive das lebendige Gedächtnis der stadtbürgerlichen Gemeinden.

Wie schwierig ist es heute für Wissenschaftler und Interessierte, Zugang zu den alten deutschen Buchbeständen in Osteuropa und Russland zu bekommen?
Als ich vor der Wende in der Sowjetunion reiste, war es überhaupt kein Problem. Ich war vielfach der Erste, der Bücher aus Königsberg oder Hamburg oder aus der Landesbibliothek Dresden wieder in der Hand hielt, sogar Filme konnte ich bestellen. Das Osnabrücker Frühneuzeit-Institut ist heute ein einzig dastehendes Schatzhaus mit Filmen und Digitalisaten aus dem alten deutschen Sprachraum des Ostens. Der Kommunikationsverkehr ist heute erleichtert, aber ich würde mir einen engeren und systematischen Austausch zwischen den Forschern und ihren Institutionen im Geiste Europas wünschen.

Wie weit sind die Restitutionsverhandlungen zwischen den osteuropäischen Ländern und der Bundesrepublik bis heute gediehen? Worin liegen dabei die Hauptprobleme, und hat sich in den vergangenen Jahren etwas Nennenswertes bewegt?
Die Verhandlungen waren kurz vor und nach der Wende sehr intensiv und sind heute in den Hintergrund getreten. Vereinzelt ist es zu Rückgaben gekommen. Vor allem Georgien hat sich rühmlich hervorgetan, aber auch aus Russland kehrten Handschriften vereinzelt zurück. Doch das sind Tropfen auf den heißen Stein, und das Interesse aufseiten der deutschen Politik ist keinesfalls das ausgeprägteste. Bibliotheken wie die in Hamburg oder Dresden würden mit einem Schlag ein anderes Gesicht erhalten, wenn ihre Schätze aus Russland wieder zurückkehrten.

Ist die Forderung nach konsequenter wechselseitiger Rückgabe der Bücher zwischen Deutschland einerseits und Polen, Russland und den baltischen Staaten andererseits politisch-juristisch gerechtfertigt und aussichtsreich?
Die schmerzlichste Wunde ist Polen. In Krakau lagern die größten Kostbarkeiten aus der Staatsbibliothek zu Berlin und in Berlin die entsprechenden Juwelen aus Breslau. Es ist unbegreiflich, dass zwei Staaten in der EU keinen Weg des Ausgleichs finden. Und was Königsberg angeht, dieses geschichtliche Sinnbild der deutschen Katastrophe, so weiß man nicht, ob man sich wünschen soll, dass die reichen Bestände, die heute in Vilnius und St. Petersburg, auch aber in Warschau und Thorn lagern, den Weg in die vom Erdboden verschwundene Stadt antreten sollten. Deutschland hätte sich viel mehr einfallen lassen müssen, um im Nehmen und Geben einen Ausgleich zu schaffen, denn um die Zeit der Wende waren die Bedingungen dafür günstig.

Wie beurteilen Sie den historischen und geistigen Schaden, der durch die Absenz der deutschen Bücher für unser kulturelles Gedächtnis entstanden ist?
Diese Frage beantworte ich mit einem Zitat des ersten Sachkenners aus dem Jahr 1947: „Es ist eine Katastrophe, die in der Geschichte der Bibliotheken und in der Geschichte der Wissenschaften keinen Vergleich hat“ (Georg Leyh). Wir besitzen keine Darstellung des Untergangs der deutschen Bibliotheken. Deutschland hat maßgebliche Teile seines kulturellen Gedächtnisses für immer verloren. Wer aber weiß darum? Das größte von Deutschland begangene Verbrechen hat umgekehrt zu einem unwiederbringlichen Verlust städtischer Silhouetten und kultureller Zeugen geführt. Die Antwort? Nicht endende Trauer und nicht ablassende Arbeit des Erinnerns.

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