Echofetzen aus acht Jahrzehnten
Die Biografie des Augenblicks: Büchnerpreisträger Jürgen Becker legt den Journalband "Graugänse über Toronto" vor.
Jürgen Becker, der im Juli 85 Jahre alt wird, schreibt seine Geschichte der Gleichzeitigkeit fort. Darin finden das Vergangene und das Gegenwärtige zusammen, die Erinnerung und der Augenblick. Der Kölner Schriftsteller hat sich damit in den vergangenen Jahren schon vielfach in seinen (von ihm so bezeichneten) „Journalen“ befasst. In immer anderer Form – in Sätzen, Gedichten, Romanen und Geschichten. Nun versammelt er seine Eindrücke in einem einzigen langen „Journalgedicht“: „Graugänse über Toronto“. Ein Tagebuch der ganz eigenen Art.
Es gibt Vokabeln, die gehören zu einem Jürgen-Becker-Text wie das Amen zur Kirche: Radio und Zeitung, Scheune und Gelände, Zitat und Wiederholung, Zonengrenze und Trennungsgeschichte, Krähen – und Krieg. Einmal zitiert der Büchnerpreisträger von 2014 den Satz „Es gibt ein Recht aufs Vergessen“. Aber der Krieg lässt sich nicht vergessen. Wenn es kalt ist in der Wohnung, stellt sich die Frage nach den Heizöl-Vorräten – „als hörten die Ängste nie auf, als ginge es wieder ums Überleben“. Wie damals: Die Geräuschlawine der Bomber, die Heimatfrontkinder beim Anblick der Leichenhaufen hinterm Stacheldraht, der Fähnleinführer plötzlich im Blauhemd der FDJ.
„Zurück“ lautet die erste Vokabel in diesem öffentlichen Selbstgespräch. Doch zuverlässig findet dieses Journalgedicht immer wieder hinein in die Gegenwart. Selbst die Nachrichtenlage spiegelt sich in diesen Zeilen – so lokal wie international, sei es der Kölner Archiveinsturz oder die Griechenlandkrise.
Beckers Kunst ist es, die Erinnerungs- und Beobachtungssplitter so zu sammeln, zu sortieren und zu kombinieren, dass der Leser fortgetragen wird in einem wunderbar strömenden, sprudelnden, schäumenden Lesefluss. Der Steckrübenwinter und die Hölle des Berufsverkehrs, Karlheinz am Mischpult und der Sportplatz SC Preußen, Kiefern im Osten und Kiefern am Bensberger Marktweg – Hunderterlei wird mal assoziativ und mal logisch verbunden. Es sind dies die Echofetzen, die den „Grundton der Jahrzehnte“ bilden. Ein jeder Augenblick, lesen wir, hat seine Biografie. Und Jürgen Becker ist dessen fürsorglicher Chronist.
„Graugänse über Toronto“ ist abermals eine Art Autobiografie im literarischen Gewand. Da trifft das Betörende auf das Banale. Was einem nicht alles durch den Kopf schwirrt: „Für eine Weile ganz interessant, was im ,inneren Kino‘ alles so vorkommt, dann reißt die Serie schon ab, und der Giebel muss gestrichen werden.“ Erzählt werden die Sequenzen zumeist über mehrere Zeilen hinweg. Doch ab und an bricht der Autor diese Form auf, als dränge zu viel Material auf ihn ein, und dann reiht er seine Sätze und Stichworte in einem Stakkato aneinander.
Die Person, von der in dieser Lyrik die Rede ist, darf man dem literarischen Regelwerk zufolge nicht gleichsetzen mit dem Autor – aber er könnte es sein. Beckers Erwähnung der Ausstellung „Staged Confusion“ seines Sohnes darf ebenso als Hinweis gelten wie die Distanz zur digitalen Welt: „Kennwort vergessen, Zugang gesperrt“. Keineswegs triumphierend, sondern gewitzt dazu die Beobachtung: „Google weiß mehr, aber nicht alles. Schon gar nicht, wo unterm Scheunendach der Marder sitzt. Und wie es sich anhört, wenn der Bleistift einen Gedankenstrich zieht – nur weiß ich jetzt auch nicht, was der Gedanke davor und danach ist.“
Das Vergehen der Zeit ist ein starker Akzent in diesem Band: „Kein Anruf heute, wer ist man denn noch.“ Der Blick fällt auf die, die von uns gehen, unvergessen oder vergessen schon zu Lebzeiten: „Sag ein paar Namen, und du wunderst dich, dass keiner aufschaut und nickt.“ Kurz darauf zählt er einige Namen auf. Damit die in Erinnerung bleiben. Solche Fäden der Melancholie ziehen sich durch die Verse. Aber sie machen sich nie so breit, als gäbe es da eine Neigung zum Selbstmitleid. Becker ist ein Meister des Details, der genauen Beobachtung. Das Alltägliche wird bei ihm zum poetischen Ereignis. Immer wieder gibt es Passagen, die das Wiederlesen und Nochmallesen lohnen. Etwa diese Sentenz, die scheinbar nur vom Autofahren handelt: „Im Rückspiegel fließen die Situationen weg, die für unser Fahrverhalten maßgebend waren.“ Und diese Strahlkraft hält an bis zum letzten Satz: „Was sich anhört wie Seufzen, kommt von den alten Dachrinnen her, die an der Scheunenwand lehnen, und wir lassen sie stehen, für das Geräusch, das der Wind macht, wenn er sich darin fängt –“ Der Gedankenstrich weckt die Vorfreude auf das nächste Journal. Es geht ja immer weiter. Lauter neue Augenblicke leuchten auf. Sternenstaub ist nichts dagegen.