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Volha Hapeyeva und die nomadische Poesie

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Die in Minsk geborene Schriftstellerin Volha Hapeyeva. Foto: Isamu Bergsan
Die in Minsk geborene Schriftstellerin Volha Hapeyeva. © Isamu Bergsan

Die Laudatio von Sighard Neckel auf die belarussische Dichterin, die am Sonntag in Frankfurt den Wortmeldungs-Literaturpreis erhalten hat: Putins Krieg gegen die Ukraine hat die Lügen der Despotien wieder unerwartet nahegerückt – Volha Hapeyeva aber verteidigt aus dem Exil heraus ein Terrain, das kein Diktator einnehmen kann.

Wo immer ich hingehe, wo immer ich bleibe, auch wenn es nur für eine Nacht ist, fange ich sofort an, diesen Ort mein Zuhause zu nennen. Ein Hotelzimmer ist mein Zuhause, ein Gästezimmer bei einem Freund – Zuhause; Flughäfen, Bahnhöfe – auch die. Das ist eine Art nomadisches Denken.“ Mit diesen Worten hebt der preisgekrönte Essay des diesjährigen Wortmeldungen-Literaturpreises an, in dem Volha Hapeyeva uns auf eindringliche Weise auf eine gedankliche Reise zu den verschiedensten Formen menschlicher Zugehörigkeiten mitnimmt. Diese Reise führt uns an Orten, Begriffen und Konstellationen entlang, die von einer existentiellen Erfahrung zeugen, die uns gerade jetzt in diesem Moment so nahekommt, wie es sich vor dem 24. Februar 2022 kaum jemand vorstellen konnte.

Das Exil der belarussischen Autorin, in das sie durch die Anmaßungen eines diktatorischen Regimes gezwungen worden ist, gibt ihr den Blick auf eine Art der Lebensbewältigung frei, in der Zuhause nicht Heimat, Sprache nicht Verständigung und Poesie keine Weltflucht ist, als die sie nicht selten missverstanden wird. „Nomadisches Denken“ – so versteht Volha Hapeyeva ihren assoziationsreichen Versuch, ihrer selbst innezuwerden zu werden in einer umkämpften Welt voller Gewalt und einer brutal ausgestellten Macht, die sich anschickt, durch Krieg, Unterdrückung und Vertreibung jeden Eigensinn in Gedanken, Worten und Gefühlen im buchstäblichen Sinne heimatlos zu machen.

Diese Heimatlosigkeit, aus der das Zuhause-sein an wechselnden Orten ein Ausweg sein kann, von dem die Despoten unserer Zeit sich nichts träumen lassen, diese nomadische Existenz ist in den Ländern des Westens in den letzten Jahrzehnten vielfach als eine Errungenschaft betrachtet und manchmal auch zelebriert worden. Im Dekonstruktivismus wurde nomadisches Denken zu einem Programm erhoben, das den Geist ziellos umherschweifen lässt, Vielfalt sucht und allen ‚Standpunkten‘ und ‚Positionen‘ abzuschwören verspricht. Auch als zeittypische Lebensform wurde das Nomadische in einer Gegenwart wiederentdeckt, die von der Erfahrung zahlreicher Brüche, einer hohen Dynamik und schnellem Wandel gekennzeichnet ist. Der Soziologe Zygmunt Bauman – im polnischen Kommunismus selbst heimatlos geworden, bis er an der University of Leeds ein neues Zuhause fand – brachte dies so auf den Begriff:

„Moderne ist die Unmöglichkeit, an Ort und Stelle auszuharren. Modern sein bedeutet in Bewegung sein“. Der moderne Mensch habe zwar nicht ohne sein eigenes Zutun, aber ohne Absicht seine Heimstatt verloren – einmal in Bewegung versetzt, sei er dazu verdammt, ständig auf der Wanderschaft zu sein. „In einer solchen Welt“ – so schließt Bauman seine Betrachtung ab – „sind alle Bewohner Nomaden“.

Was die westlichen Lebensformen betrifft, so hatte die „Rache des Nomadischen“, wie Zygmunt Bauman dies in einer späteren Arbeit nennt, seine Gründe im Ideal des mobilen Selbst, das ständig an neuen Orten seine Zelte aufschlägt – dort, wo die verpflichtende Kraft fester Bindungen erkennbar nachgelassen hat oder auch gar nicht erst angestrebt wird.

Zur Sache

Volha Hapeyeva, 1982 in Minsk geboren, ist Lyrikerin, Autorin, Übersetzerin und promovierte Linguistin. Ihre Gedichte wurden in mehr als 15 Sprachen übertragen. Auf Deutsch erschienen der Lyrikband „Mutantengarten“ (Edition Thanhäuser 2020) und der Roman „Camel-Travel“ (Droschl 2021). 2019/2020 war sie Stadtschreiberin von Graz, nach der brutalen Niederschlagung der Proteste gegen den diktatorisch regierenden Staatschef Alexander Lukaschenko in Belarus 2020 kehrte sie nicht in ihre Heimat zurück. Derzeit ist sie Stipendiatin im Writers-in-Exile-Programms des PEN-Zentrums Deutschland.

Der Wortmeldungen Literaturpreis der Ulrike Crespo Foundation wird seit 2018 für „herausragende kurze literarische Texte“ vergeben. Nach dem Tod der Stifterin 2019 wurde er nun in Wortmeldungen Ulrike Crespo Literaturpreis umbenannt. Er ist mit 35 000 Euro dotiert. Es gibt außerdem einen mit insgesamt 15 000 Euro dotierten Förderpreis, dessen Gewinnerinnen und/oder Gewinner Anfang November bekannt gegeben werden sollen.

Sieghard Neckel, an der Hamburger Universität lehrender Soziologe, hat bei der Preisverleihung am Sonntag in den Kammerspielen des Schauspiels Frankfurt die Laudatio auf Hapeyeva gehalten, die wir hier abdrucken. Neckels Text findet sich wie der Text der Preisträgerin, drei bisher unveröffentlichte Gedichte sowie ein Interview mit Hapeyeva im dritten Band der Wortmeldungen-Reihe im Verbrecher Verlag. Zuvor kamen in der Reihe bereits die Texte der Preisträgerinnen Kathrin Röggla (2020) und Marion Poschmann (2021) heraus.

Im Radio gibt es Ausschnitte der Preisverleihung am 26. Juni, 12.03 Uhr, in der Sendung „Literaturland Hessen“ auf hr2-kultur.

Im Angesicht einer zunehmenden Kontingenz von Biographien, kulturellen Mustern und wechselhaften Märkten wurde Heimatlosigkeit mehr und mehr zu einer gesuchten Lebensform, die Chancen und Abenteuer versprach. Gewiss folgte sie auch subtilen Zwängen, um den wettbewerbstauglichsten Normen des persönlichen Fortkommens zu entsprechen. Doch letztlich wurde die Heimatlosigkeit – das Zuhause-sein, wo auch immer – aus der Fülle von Möglichkeiten geboren, die eine „verflüssigte Moderne“ (Bauman) dem Subjekt anheimgestellt hatte.

Im Essay von Volha Hapeyeva werden wir mit einer anderen Wirklichkeit des Nomadischen konfrontiert, die weniger aus der Fülle als vielmehr aus der Not geboren wird. Aufgewachsen in Minsk noch zu Zeiten der Sowjetunion, wurde die Autorin, wie sie in ihrem Debütroman „Camel Travel“ höchst anschaulich beschreibt, zu einer sozialistischen Musterschülerin erzogen, die sich bereits im Mädchenalter an den Konventionen der sowjetischen Erziehung reibt. Auf den Aufbruch nach dem Fall des Eisernen Vorhangs folgt eine schleichende Entfremdung von der eigenen Heimat, nachdem 1994 Lukaschenko zum Präsidenten gewählt worden war und er Belarus mehr und mehr einem diktatorischen Regime unterwarf. „Minsk“, schreibt Hapeyeva, „gehört den Menschen schon lange nicht mehr“.

Als im Sommer 2020 auf die gefälschte Präsidentschaftswahl über mehrere Wochen landesweite Proteste und Streiks gegen die Regierung folgten, wurden die Demonstrationen mit äußerster Brutalität niedergeschlagen, ihre Anführerinnen verhaftet, zur Flucht gezwungen oder auf unabsehbare Zeit in Straflager verbracht. Volha Hapeyeva, zu dieser Zeit Stadtschreiberin im österreichischen Graz, konnte nicht mehr nach Minsk zurück. Spätestens jetzt war sie, wie sie selbst schreibt, zu einer Nomadin geworden.

Eine Nomadin ist dazu gezwungen, ihre Habe ständig bei sich zu haben und beweglich zu halten. Als nomadische Schriftstellerin besteht die bewegliche Habe aus den Sprachen, in denen sich eine Autorin auszudrücken vermag. Sprache aber gehört nie einem Menschen allein. Sie ist ein anonymes Konstrukt, das Gemeinschaften nicht zuletzt dazu dient, Unterscheidungen zu treffen und Einteilungen vorzunehmen. Wer aufgrund seiner Heimatlosigkeit am Rand solcher Gemeinschaften steht, spürt besonders intensiv, dass Sprache voller Klassifizierungen und Ordnungssysteme steckt, aus denen die Heimatlosen herauszufallen drohen. Volha Hapeyeva tut sich daher schwer damit, sich und ihre Heimatlosigkeit zu klassifizieren, weshalb „Emigrant“, „Flüchtling“, „Exilant“ oder „fremd“ für sie keine passenden Charakterisierungen sind. „All dieser Wörter“, so schreibt sie, „sind aus der Position der Staatlichkeit heraus entstanden. Ich möchte nicht in solchen Begriffen denken – also höre ich bei Nomade auf.“

Als Nomadin hat sie ein feines Gehör für all die Falschheiten und Demütigungen, die sich in Sprache ausdrücken lassen. Ja, vielleicht muss man eine Nomadin wie Volha Hapeyeva sein, um der schwarzen Pädagogik der Macht semantisch nichts durchgehen zu lassen. Dies können, wie der Essay uns vor dem Hintergrund belarussischer Erfahrungen berichtet, paternalistische Bevormundungen sein, die „Behandlung wie ein Kind“ oder ein fortlaufendes System der Kontrolle. Aber auch Verwirrung stiften, Drohungen, Isolation, Unberechenbarkeit – das ganze Arsenal eines Systems, „das auf Patriarchat, Terror und Angst aufgebaut ist“ und dessen elementare Einheit sich in der Bereitschaft findet, jederzeit grenzenlose körperliche Gewalt anzuwenden.

Als ganz besondere Stärke des prämierten Essays tritt hervor, wie ein Urgrund diktatorischer Gewalt in der geschickten Verknüpfung von manipulativer Sprache und den emotionalen Untiefen verletzbarer Individuen freigelegt wird; wie Schuldgefühle und Scham das eigene Selbstbewusstsein brechen, wenn die Autorität harte Urteile spricht; wie die Schmeicheleien der Macht unser Ich korrumpieren, falsche Versprechungen und vergiftete Angebote Menschen zu Komplizen von Potentaten machen, von denen sie bestenfalls Gleichgültigkeit zu erwarten haben.

Dieses Curriculum der Bösartigkeit nennt Hapeyeva die „Herrenregeln“, die darauf abzielen, „gehorsame Schwache“ und „erlernte Hilflosigkeit“ zu erzeugen. Am Ende, so Hapeyeva, werden solche Gesellschaften, wenn sie nur lange genug durchherrscht worden sind, zu Trägern eines kollektiven Traumas, von dem sich, auch wenn der Schrecken eines Tages vorbei sein sollte, womöglich Generationen mental nicht befreien können.

Haben wir es hier mit einer eher subtil angelegten Mikrophysik autokratischer Macht zu tun, so gebrauchen die Machthaber Worte wie „tödliche Waffen“ insbesondere dann, wenn sie sich bedroht sehen, Widerstand wittern oder mit dem Rücken zur Wand stehen. Dann wird härteste Sprachpolitik exerziert, dann sollen Worte Realitäten schaffen oder verbergen. „Jedes Regime und jede Diktatur“, so heißt es bei Hapeyeva, „bedient sich eines bestimmten Vokabulars, um seine Handlungen zu rechtfertigen und die Opposition zu verhöhnen“.

Kaum eine Passage dieses großartigen Essays hat seit Februar 2022 eine bedrückendere Aktualität erfahren als jene, in der die Preisträgerin die Lügen heutiger Despotien seziert. Im verbrecherischen Krieg, den Russland gegen die Ukraine führt, ist das Aussprechen der Wahrheit unter drakonische Strafen gestellt. Der Krieg darf nicht Krieg heißen, sondern muss „militärische Spezialoperation“ genannt werden, sonst handele es sich um eine „Falschinformation“. Bis zu 15 Jahren Haft drohen russische Gerichte denjenigen an, die es wagen, solche „Falschinformationen“ zu verbreiten. Gegner der Diktatur werden zu „ausländischen Agenten“, unabhängige Medien und Menschenrechtsorganisationen als Werkzeuge fremder Mächte diffamiert.

Seinen demagogischen Höhepunkt hat die Gewalt dieser Sprachpolitik bisher in der offiziellen Aussage erreicht, der Überfall auf die Ukraine diene ihrer „Entnazifizierung“, wie Putin verkündet, dessen politisches System immer mehr einem faschistischen Führerstaat gleicht.

In ihrem aufwühlenden Text legt Volha Hapeyeva indes den Beweis vor, dass Sprache auch eine Realität des Widerstands schaffen kann. Diese Sprache ist nicht das Medium der Befehle, der Täuschungen, der Herabwürdigung. Es ist die Sprache der Anteilnahme, der Empathie, „Antidot zur Gewalt und zum Hass“.

Am Ende ihrer gedanklichen Reise kommt die Autorin zu der Einsicht, dass die Poesie ihr eigentliches Zuhause ist. Dies ist kein Ausdruck von Hilflosigkeit, im Gegenteil. Aus dem Exil heraus verteidigt sie ein Terrain, das von keinem Diktator eingenommen werden kann. Und wenn auch die eigene Heimat diktatorisch okkupiert worden ist, so vermag doch keine usurpatorische Macht überall dort hinzugelangen, wo die widerständige Poesie ein Zuhause finden kann.

Das ist die Kraft des Nomadischen, dass sie sich nicht vollständig kontrollieren lässt, dass ihre Bewegungen eigensinnig sind, eine unberechenbare Menschlichkeit. „Die Verteidigung der Poesie in Zeiten dauernden Exils ist hiervon ein ungemein starkes literarisches Dokument“, dessen Prämierung mit dem Wortmeldungen Literaturpreis 2022 für uns alle ein wichtiges Zeichen setzt.

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