Der Wiener Kreis: Wer ist hier der Größte?

Wie aus dem Zettelkasten: David Edmonds‘ miserables Buch über Moritz Schlick.
Am 22. Juni 1936 wurde der Philosoph Moritz Schlick auf der Freitreppe der Universität Wien erschossen. Der Täter war ein früherer Student Schlicks. Es wird vermutet, dass er, psychisch labil, aus Eifersucht handelte: Eine Studentin, der er Avancen gemacht hatte, soll ihn abgewiesen haben mit der Begründung, sie habe mit Schlick ein amouröses Verhältnis.
Was ein relativ banaler Kriminalfall hätte sein können, wurde von großen Teilen der österreichischen Presse zum Anlass genommen, Schlicks Philosophie zu verunglimpfen und sie verantwortlich zu machen für den Mord: sie sei positivistisch, antimetaphysisch, antichristlich und jüdisch; nichts davon war als Lob gemeint. Schlick selbst war kein Jude, aber das spielte in dem antisemitischen Klima der Zeit keine Rolle.
Die Ideen, die man mit Moritz Schlicks Philosophie assoziierte, waren wesentlich die des Wiener Kreises, dessen Leitung Schlick von 1924 bis zu seiner Ermordung innehatte. Rudolf Carnap, Otto Neurath, Kurt Gödel, Karl Menger, Olga Taussky, Karl Popper und Willard van Orman Quine zählten zu den Mitgliedern oder waren zeitweise eng mit dem Kreis verbunden. Ludwig Wittgenstein nahm zwar nie an einer Sitzung teil, aber sein „Tractatus logico-philosophicus“ hatte großen Einfluss auf die Debatten; zudem war er lange Zeit ein wichtiger Gesprächspartner Schlicks und anderer Mitglieder.
Die Philosophie des Wiener Kreises war, soweit man sie bei so einer großen Gruppe auf den Begriff bringen kann, der logische Empirismus. Alle empirischen Behauptungen mussten überprüfbar sein. Für Kants Ding an sich hatte man nichts übrig, Metaphysik war verpönt. Die Philosophiegeschichte hatte für die Kreismitglieder kaum Bedeutung, entscheidende Denkanstöße erhielten sie aus der Physik: Einsteins Relativitätstheorie statt Platons „Politeia“.
Die meisten Debatten drehten sich um Probleme der Sprache: Wie hingen Wörter und Aussagen miteinander zusammen, in welchem Verhältnis stand die Sprache zur Welt, wie konnte man überprüfen, ob Sätze wahr und sinnvoll waren? Über den Wiener Kreis hat der Brite David Edmonds nun ein Buch vorgelegt: „Die Ermordung des Professor Schlick. Der Wiener Kreis und die dunklen Jahre der Philosophie“.
Wer hier eine kriminalgeschichtliche Darstellung erwartet, der wird enttäuscht. „Die Ermordung des Professor Schlick ist nicht um den Mord herum strukturiert“, wie es der Titel verheißt, und obwohl Schlicks Name häufig fällt, gewinnt er nie die Statur, die eine titelgebende Gestalt verdient hätte (was man schon nach der Lektüre des Vorworts ahnen kann, in dem Schlick nicht einmal erwähnt wird).
Das Buch soll, in Abgrenzung zu vorhandenen wissenschaftlichen Publikationen, von „allgemeinerem Interesse“ sein. Vielleicht glaubte der Autor, dass man dieses Interesse durch den regelmäßigen Gebrauch des Superlativs wecken könne: Der „bedeutendste Logiker des 20. Jahrhunderts“; „der wichtigste Satz in der Logik des 20. Jahrhunderts“; „einer der … wenn nicht sogar … der bedeutendste Durchbruch in der Logik“; „bahnbrechende Neuerungen in der Logik“, die „den größten Fortschritt seit Aristoteles“ markieren würden, und so weiter. Wer der Größte, Bedeutendste und Wichtigste ist und warum es einen solchen überhaupt gegen muss, bleibt dabei unklar.
Dass die Superlative manchmal einander ausschließen, verwundert nicht, entspricht das doch der Machart des Buches, das oft so zusammenhanglos wirkt, als wäre einfach der Zettelkasten ausgekippt worden. Über Ernst Machs Beschäftigung mit Einstein liest man: „Mach jedoch konnte die Relativitätstheorie zunächst nicht verstehen, und Philipp Frank musste sie ihm erklären. Frank beschrieb Mach später als ‚einen Mann mit einem grauen, etwas wilden Bart, der wie ein slowakischer Arzt oder Rechtsanwalt aussah.‘“ Dass der eine Satz mit dem anderen nichts zu tun hat, hätte dem Lektorat (gab es eins?) hier und an vielen anderen Stellen auch auffallen können.
Wer soll das glauben?
Da Edmonds den aufklärerischen Ideen des Wiener Kreises grundsätzlich gewogen scheint, ist es umso erstaunlicher, dass er selbst zur Mystifizierung neigt; über Otto Neurath etwa heißt es: „Jeder, der ihm begegnete war beeindruckt von seiner physischen Erscheinung … Er arbeitete sich täglich durch zwei Bücher und kritzelte Anmerkungen und Verweise an den Rand.“ Wer soll das glauben? Etwa jeder?
Man könnte noch viele Stellen anführen, die einem beim Lesen Verdruss bereiten, auf die zahlreichen hanebüchenen Vergleiche hinweisen („Heideggers verschachtelte Prosa ließ den Tractatus wie ein Bilderbuch für Kinder erscheinen“), die abwegigen Charakterisierungen beklagen (John Stuart Mill als „Aktivist“) und fragen, ob einem deutschen Publikum die Habilitation erklärt werden muss – und dann auch noch falsch. Das ist alles sehr ärgerlich und macht das Buch kaum lesbar. Nachgerade erschreckend sind andere Passagen.
Über die Universität Wien der zwanziger Jahre schreibt Edmonds: „Aufgrund ihrer Förmlichkeit und Steifheit, ihres Antisemitismus und Konservatismus fanden … die anregendsten Diskussionen meist jenseits ihrer Mauern statt.“ Antisemitismus als Gesprächshemmnis: das kann er sicher auch sein, aber ihn zuvörderst als solchen zu betrachten, käme einer grotesken Verharmlosung gleich; Förmlichkeit, Steifheit und Konservatismus auf eine Stufe mit Antisemitismus zu stellen, würde gleichfalls vom Verlust gesunder Maßstäbe zeugen. Man täte Edmonds ohne Zweifel unrecht, würde man ihn einer absichtlichen Verharmlosung bezichtigen; er schreibt ausführlich über den Antisemitismus in Österreich und die Schwierigkeiten, denen sich ein Großteil der Kreismitglieder aufgrund ihrer jüdischen Herkunft gegenübersah und die schließlich zu ihrer Emigration führten. Aber wie kann man dann folgende Einschätzung zur Reaktion auf rechtsradikale Ausschreitungen 1927 in Wien formulieren: „Für die meisten war es indessen noch immer eine Zeit, in der man für den eigenen politischen Standpunkt kämpfte und nicht etwa einknickte oder floh.“ Das hätte Gottfried Benn in seinen dunkelsten Stunden kaum schreiben können.
Sicherlich will Edmonds niemandem vorwerfen, dass er geflohen oder „eingeknickt“ (ein abscheulich-unangebrachtes Wort in diesem Kontext) sei; aber solche Eindrücke entstehen als Folge eines Umgangs mit Sprache, den man bestenfalls als gedankenlos bezeichnen kann. Vielleicht ist das Ganze ja ein Experiment oder ein Scherz, eine große Buffonnerie: Man schreibt über den Wiener Kreis und führt vor, was passiert, wenn man konsequent wider dessen „intellektuelle Tugenden“ handelt, von denen es am Ende heißt, dass sie mittlerweile selbstverständlich geworden seien, ja „so selbstverständlich, … dass sie heute praktisch unsichtbar geworden sind.“ In Edmonds Buch sind sie nicht unsichtbar, sondern abwesend.