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Wer ihn liest, wird heute noch belohnt: Zwei Schriften Petrarcas in neuer Übersetzung

Von JAN WAGNER

Seltsam, in einer Zeit der Hektik und Unruhe, der ununterbrochenen Informationsströme und der permanenten Erreichbarkeit ein Buch wie dieses in Händen zu halten: Zwei Schriften des großen Renaissancedichters und Gelehrten Francesco Petrarca, von denen eine zuletzt 1919, die andere noch nie aus dem Lateinischen ins Deutsche übertragen wurde, und die sich beide sich mit demselben Thema beschäftigen: dem gottgefälligen Leben in Abkehr von der Welt, der stillen Meditation in Erwartung des wahren Lebens nach dem Leben - und also mit den Mitteln und Wegen, "sich den Lockungen des Irdischen zu entziehen und die Seele in den unzähligen Stürmen des Lebens im Gleichgewicht zu halten".

Über das Leben in Abgeschiedenheit, die längere der beiden Schriften, entstand 1346 in Vaucluse, Petrarcas Rückzugsort nahe Avignon - fünf Jahre, nachdem er auf dem Kapitol in Rom zum poeta laur(e)atus gekrönt worden war, fast zwanzig Jahre, nachdem er bei einem Kirchgang jene Laura gesehen hatte, die ihn zu seinem bekanntesten Werk, dem Canzoniere, inspirierte. Petrarca möchte in De vita solitaria den Beweis erbringen, dass Glück und Seligkeit nur in der Entsagung zu finden sind. Zu diesem Zweck hält er - in polemisch zugespitzter Form - dem Leben der Städter, das zwangsläufig zu Zermürbung und Sünde führen müsse, das Dasein auf dem Land, im Schoße der Natur entgegen. Seine Schlussfolgerung: "Das eine Leben basiert auf fröhlicher Muße, das andere auf trauriger Geschäftigkeit."

Petrarca entlarvt also nacheinander die Objekte weltlichen Begehrens, Geld und Einfluss, Ruhm und Sinnenfreude, als nichtig, ja dem Seelenheil abträglich, preist dagegen die wunschlose Einsamkeit, die dem Nachdenken des Menschen über sich selbst und seine Rolle im Weltgefüge dienen müsse, denn: "Abgeschiedenheit ohne geistige Tätigkeit bedeutet tatsächlich Verstoßensein, Gefangenschaft und Qual, in Verbindung mit geistiger Tätigkeit dagegen Heimat, Freiheit, Freude."

Kronzeugen bei dieser Argumentation gegen vergängliche Werte, die den barocken Vanitas-Gedanken vorwegzunehmen scheint, sind nicht nur eine Vielzahl bekannter und weniger bekannter Anachoreten (angefangen bei dem von Eva noch unbehelligten Adam), deren Leben und Streben Petrarca ausführlichst darstellt, sondern auch eine Reihe klassischer Philosophen, Rhetoriker und Dichter, deren Beispiele er lobt und deren Werke er als Belege heranzieht - wenn auch beim Verfasser der Metamorphosen deutliche Abstriche gemacht werden: "Ovid scheint mir ohne Zweifel ein großer Dichter zu sein, aber zügellos, unmoralisch und ein Weiberheld."

Secretum meum, das vier Jahre früher entstand, doch von Petrarca - auch deswegen der Titel Mein Geheimnis - zu Lebzeiten nicht publiziert wurde, enthält ähnliche Gedanken, entwickelt diese aber am Beispiel der eigenen Person und stellt somit das Leben des Autors selbst auf den Prüfstand. In einem Prolog erscheinen Petrarca die Allegorie der Wahrheit und eine Gestalt, in der er bald den von ihm verehrten Kirchenvater Augustinus erkennt.

Nie das rechte Maß gefunden

Ein fast platonischer, sich über drei Tage hinziehender Dialog entwickelt sich, in dessen Verlauf nicht nur in geistreichen Abschweifungen freier Wille, Tugend, Dichtung und die richtige Art des Lesens erörtert werden, sondern Augustinus Petrarca mit allen sieben Todsünden konfrontiert und darlegt, wie auch er ihnen, mal mehr, mal minder, verfallen ist. Auch hier führt der Weg aus dem "Kerker des Leibes" zur Erlangung wahrhafter Glückseligkeit und Seelenruhe.

Petrarca selbst schaffte es nie, dieses Gleichgewicht, das "rechte Maß", zu finden. Zwar zog er sich immer wieder in die Einsamkeit von Vaucluse und Selvapiana zurück, doch er war hin- und hergerissen zwischen Entsagung und dem von ihm ebenso gegeißelten wie geliebten Stadtleben, zwischen Meditation und dem Wunsch nach dichterischem Ruhm. Von Ruhelosigkeit zeugen seine ausgedehnten Reisen, die ihn durch Frankreich, Flandern, Brabant und das Rheinland führten, wo er befreundete Gelehrte und Dichter besuchte und in Klosterbibliotheken nach verschollenen Manuskripten der Klassiker suchte. Durch die Synthese griechischer und lateinischer Werke mit der christlichen Heilslehre überwand er dabei endgültig die mittelalterliche Scholastik und begründete den europäischen Humanismus.

De vita solitaria und Secretum meum sind beredte Zeugnisse hierfür. Das Frauenbild und die heftigen Anwürfe gegen den Islam erscheinen heute befremdlich und zeigen Petrarca als Kind seiner Zeit. Ein großer Teil der Schriften aber ist verblüffend aktuell und scheint geradezu auf derzeit geführte Debatten gemünzt zu sein - wie die Kritik an jenen, für die "Bildung nicht geistige Erleuchtung und Freude des Lebens bedeutet, sondern Werkzeug zum Erwerb von Reichtum" ist. Auch finden sich höchst geistreiche Sentenzen zu verschiedenen Themen und wunderbare Passagen etwa über "die traurige Gabe der Liebenden, von fern die Geliebte hören und sehen zu können".

Mögen solche Stellen auch gut versteckt sein in einem wahren Panoptikum von Heiligen, in einer Fülle von Eremitengeschichten, so lädt doch die Lektüre zum Innehalten "zwischen den Extremen" ein und führt für Augenblicke zu jener Balance, die Petrarca selbst vor allem in seiner Dichtung gelang. Die Augustinus in den Mund gelegte Befürchtung, "dass du dich noch an deinem Todestag, der vielleicht schon nahe ist und gewiss nicht mehr fern sein kann, aus Gier nach dem Gold über dein Rechnungsbuch beugst", sollte sich trotzdem nicht bewahrheiten: Als Petrarca im Juli 1374 im Alter von siebzig Jahren starb, fand man ihn morgens in seinem Studierzimmer nahe Padua am Schreibtisch sitzend, den Kopf auf eine Schrift von Vergil gebettet.

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