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Deepti Kapoor: „Zeit der Schuld“ – Und die Großen lässt man laufen

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Von: Katharina Granzin

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Deepti Kapoor, 1980 in Moradabad geboren. Foto: Matthew Parker
Deepti Kapoor, 1980 in Moradabad geboren. Foto: Matthew Parker © Matthew Parker

Deepti Kapoors Roman „Zeit der Schuld“ ist ein Schmöker von Sozialdrama, das sich so spannend liest wie ein Thriller.

Miteinander verstrickt, verwoben, verdorben – sind die Leben der Menschen in diesem Roman. Ihre Startchancen könnten nicht unterschiedlicher sein, und doch sind all diese Existenzen verbunden durch verquere wechselseitige Beziehungen. Deepti Kapoor gelingt es mit „Zeit der Schuld“, die indische Gesellschaft in ihrer extremen, monströsen Polarität einzufangen. So arm und rechtlos die einen, so reich und ruchlos sind die anderen, es bedingt sich gegenseitig. Der Roman liest sich streckenweise wie ein Thriller, und die Handlung ist prallvoll mit Crime, Sex & Punishment.

Komponiert aus mehreren Teilen, stellt dieses dickleibige Opus eine Art dramatische Personenaufstellung dar, die aus verschiedenen Richtungen beleuchtet wird. Die Bedeutung der Charaktere ist dabei durchaus ungleich gewichtet. Am ausführlichsten zeichnet die Autorin den Lebenslauf des kastenlosen Ajay nach, der in extremer Armut aufwächst und mit acht Jahren von seiner verwitweten Mutter als Arbeitskraft verkauft wird. Im wohlhabenden Haushalt eines kinderlosen Paares in den Bergen wird Ajay in sklavenartiger Existenz gehalten, lernt aber lesen und schreiben sowie allerlei Fertigkeiten in Haushalt und Landwirtschaft.

Der Tod des Hausherrn katapultiert den Halbwüchsigen in eine ungewisse Zukunft – und in die Umlaufbahn eines verwöhnten jungen Mannes. Sunny Wadia, Ajays sozialer Antipode und zweite Hauptfigur des Romans, ist der einzige Sohn des Geschäftsmanns Bunty Wadia, dessen Einfluss bis in höchste politische Kreise reicht. Ajay folgt Sunny nach Delhi, darf in seine Dienste treten und erweitert in diesem Kontext seine Fähigkeiten um eine Nahkampfexpertise, die einer Lizenz zum Töten gleichkommt.

Als unentbehrlich gewordener Diener beobachtet er das ausschweifende Party- und Liebesleben seines Herrn aus nächster Nähe. Es entgeht ihm nicht, dass Sunny sich irgendwann nur noch mit einer einzigen Frau trifft, einer Journalistin, die aber nach einem merkwürdigen Zwischenfall zunächst von der Bildfläche verschwunden scheint.

Die blutjunge Journalistin Neda ist die dritte Hauptfigur des Romans. Behütet aufgewachsen in der exklusiven Blase von Delhis intellektueller Elite, ist sie eine smarte Reporterin, der aber, anders als ihrem engagierten Chef, das Bedürfnis abgeht, mit ihrer Arbeit die Gesellschaft zu verändern oder auch nur aufzurütteln. Ihre Liebesbeziehung zu Sunny macht sie blind dafür, dass dessen Pläne, am Ufer des Yamuna einen hippen neuen Stadtteil zu bauen, zu Lasten der Ärmsten gehen, die regelmäßig solchen Projekten weichen müssen. Andererseits leidet Neda aufrichtig mit, als sie miterlebt, wie beim Abriss eines Slums als „Kollateralschaden“ zwei Babys getötet werden.

Das Buch

Deepti Kapoor: Zeit der Schuld. Roman. A. d. Engl. v. Astrid Finke. Blessing Verlag, München 2023. 688 S., 28 Euro.

In der Welt, in der die Romanfiguren leben, ist es kaum möglich, immer ein guter Mensch zu sein. Praktisch alle Beziehungen sind vergiftet von ökonomischen Abhängigkeiten oder Gewalt. Auch in Ajay, der von Kindheit an gelernt hat, ohne Zuwendung auszukommen, geht etwas kaputt, nachdem es ihm tatsächlich gelungen ist, seine Mutter wiederzufinden. Schockiert erkennt er, dass sie ihn hasst, weil sie ihn für den Tod seines Vaters verantwortlich macht. Erst diese Begegnung öffnet in Ajay den Zugang zu jener todbringenden Gewalt, die auszuüben er gelernt hat, vor deren Anwendung er jedoch bisher zurückgescheut hat.

Doch selbst als Ajay für ein Verbrechen, das er nicht begangen hat, ins Gefängnis kommt, setzt er seine speziellen Fähigkeiten (fast) nur dort ein, wo es nötig ist. Bei aller Drastik der Darstellung hütet die Autorin sich davor, ihren wichtigsten Protagonisten als Sympathieträger aufzugeben. Dass die Ausübung von Gewalt auch einen suchtähnlichen Sog zur Folge haben und Menschen gänzlich auf die dunkle Seite ziehen kann, zeigt Kapoor an einer episodenhaften Nebenfigur, einem skrupellosen Räuber und Mörder, den sie einigermaßen unvermittelt seine Lebensgeschichte erzählen lässt. Und selbst dieser scheinbar durch und durch empathielose Zeitgenosse ist einst ein unbescholtener junger Mann gewesen.

So werden im Grunde alle Charaktere durch persönliche Schwäche zu Schuldigen – durch normale menschliche Schwäche, könnte man sagen. Damit sind sie sowohl schuldig als auch, in Relation zum Gesamtkontext, vermindert schuldfähig; denn alle sind abhängig von den großen Strippenziehern, die um sich herum ein hochgradig korruptes System ökonomischer Gewaltherrschaft aufgebaut haben.

Diese über allem thronenden Machtmenschen – Bunty Wadia als Verkörperung eines feudal-kapitalistischen Wirtschaftssystems sowie sein korrupter Verbündeter in der Politik, der Ministerpräsident des nordindischen Bundesstaats Uttar Pradesh – bleiben Abstrakta. Ihrer Innensicht der Verhältnisse werden wir nicht teilhaftig. Im Romanpanorama der ganz normal sündigen Menschen stellen sie das absolut Böse dar, auf das sich alles andere Böse zurückführen lässt. Alle anderen Charaktere sind Opfer dieser Verhältnisse. Diese Darstellung ist vielleicht etwas zu einfach, auf jeden Fall aber ganz schön finster. Immerhin entlässt die Autorin uns am Ende nicht gänzlich ohne Hoffnung auf die Wehrhaftigkeit der Machtlosen.

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