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David Peace „Tokio, neue Stadt“: Den Boden unter den Füßen verlieren

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Von: Sylvia Staude

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Ein Markt im Ginza-Distrikt in Tokio, um 1950.
Ein Markt im Ginza-Distrikt in Tokio, um 1950. © AFP

David Peace beendet seine hypnotische, nachtdunkle Japan-Trilogie mit „Tokio, neue Stadt“.

Der 1967 geborene Brite David Peace besetzt im Genre der Kriminalliteratur einen einzigartigen Außenposten. Seine Romane auf den Boden von wahren Vorkommnissen stellend, geht es ihm doch nicht um die „Aufklärung“ dieser historischen Fälle. Vielmehr zeigt er Menschen, die im Umkreis dieser Verbrechen mit Dunkelheiten kämpfen, die schmerzlichsten, mächtigsten davon in ihrem eigenen Inneren. Ähnliches tun auch andere Autorinnen und Autoren von sogenannter Spannungsliteratur – doch niemand in einer so rhythmisierten, klingenden, strömenden Sprache. Peace schafft Texturen, Satzstrukturen, Wiederholungen, die einerseits der Leserin, dem Leser ein erhebliches Maß an Konzentration abfordern, die andererseits etwas Hypnotisches haben, im Kopf nicht nur Sinn, sondern auch Klang erzeugen.

Im Jahr 2009 erschien im englischen Original und auf Deutsch in der fabelhaften Übersetzung Peter Torbergs „Tokio im Jahr Null“, das um den Serienmörder Yoshio Kodaira kreist. 2010 schon folgte „Tokio, besetzte Stadt“, Ausgangspunkt war ein mysteriöser Bankraub, bei dem Bankangestellte vergiftet wurden. Er sei langsam geworden, sagte Peace 2018 in einem Interview des britischen „Guardian“: In diesem Jahr erst beendete er nun seine Tokio-Trilogie mit „Tokyo Redux“, der Roman ist zügig ebenfalls von Torberg übersetzt worden und jetzt bei Liebeskind unter dem Titel „Tokio, neue Stadt“ erschienen. Auf der Krimi-Bestenliste (die Kritikerin ist Jury-Mitglied) schoss er sofort auf Platz eins.

Peace hat für „Tokio, neue Stadt“ ein weiteres mysteriöses Verbrechen recherchiert, diesmal als Grundlage eines auch vom Rattern und Singen der Gleise durchzogenen Romans: Am 4. Juli 1949 ließ Sadanori Shimoyama, seit rund einem Monat erst Präsident der Japanischen Staatsbahn und wohl als Sündenbock installiert, eine Liste mit rund 30 000 Namen von Bahnangestellten veröffentlichen, die aus Spargründen entlassen werden sollten. Am 5. Juli verschwand er spurlos, nachdem er in ein Kaufhaus gegangen war. In der Nacht zum 6. Juli fand man seine sterblichen Überreste auf Gleisen. Pathologen waren unterschiedlicher Meinung, ob Shimoyama bereits tot war, als er von einem Zug überfahren wurde, ob es also Suizid oder Mord war. Bis heute werden die Berichte der CIA Far East/Pacific Branch zu diesen Tagen und diesem Fall unter Verschluss gehalten: „Und zwar nur diese Berichte“, wie David Peace in einer Nachbemerkung zum Roman schreibt.

Das Buch:

David Peace: Tokio, neue Stadt. Roman. Aus dem Englischen von Peter Torberg. Liebeskind, Berlin 2021. 432 S., 24 Euro.

Durchaus könnten die amerikanischen Besatzer ihre Finger mehrfach im Spiel gehabt haben, nicht nur dadurch, dass die japanische Polizei US-Ermittlern unterstellt war. David Peaces Roman spielt zunächst 1949, die Shimoyama-Ermittlungen leitet die fiktive Figur Harry Sweeney, am Rand tritt auch General MacArthur auf. Es käme den Amerikanern zupass, sie könnten Gewerkschaftern/Kommunisten (Gewerkschafter können ja nur Kommunisten sein, lautet die Regel) einen Mord in die Schuhe schieben. Verhaftungen wären möglich, eine Schwächung der Gegenseite. Die USA hatten Angst, Japan könnte kommunistisch werden.

Dann, 1964, die Stadt rüstet sich für die Olympischen Spiele, wird Hideki Murota (1949 als Polizist beteiligt, nun Privatdetektiv) noch einmal mit dem Fall konfrontiert. Und schließlich, 1988, liegt Kaiser Hirohito im Sterben und kämpft ein gewisser Donald Reichenbach, 1949 US-Agent in Japan, dann Lehrer und Übersetzer, mit den Dämonen.

Alle drei sind Männer, die den Boden unter den Füßen längst verloren haben – im übertragenen Sinn, aber auch im realen, wenn sie wieder einmal saufen, um ihre Schuld zu vergessen. Oder jedenfalls das, was ihnen Jahre später immer noch auf der Seele liegt im Fall Shimoyama. Und sei es auch nur, dass sie ihn hätten warnen können und müssen.

Peace lässt die Grenzen zwischen auktorialem Erzählen und den Gedanken seiner Figuren verschwimmen, der Text umkreist sie wie eine Kamera, gibt von ihnen ein Bild wieder, dessen Konturen sich auflösen. Ja, es kann auch die Leserin schwindeln (aber Sprach- und Bildgewalt hält sie auch), wenn diese Männer stolpern und torkeln. In ihrem Kopf ein Summen aus düsteren Gedanken. Ein Wirbel, kreisend um die Rekapitulation von Fakten; die Ausrede, nur seinen Job gemacht zu haben; um das Bedauern, nicht genug gewusst, nicht richtig gehandelt zu haben – um einen Mann zu retten, der Frau und Kinder hatte und außerdem nur ausführen musste, was andere ausgeheckt hatten.

„Tokio, neue Stadt“ erzählt vom besetzten Japan, von Hierarchien („Ja, Sir!“), Skrupellosigkeit, Zynismus. Schließlich hielt es General MacArthur nicht einmal für nötig, seine Ausgehuniform anzuziehen, als er den Kaiser traf. Dass er und sein Geheimdienst unschuldige Menschen geopfert haben könnten für politische Zwecke, Peace legt es nahe, und unplausibel ist es nicht.

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