David Marwells „Mengele“: Die absolute Macht über Leben und Tod

Nüchtern distanziert und deshalb umso eindringlicher schildert der US-Historiker David G. Marwell das mörderisch banale Leben des KZ-Arztes Josef Mengele.
Er war ein Pop-Star des Grauens. Je länger die Taten des KZ-Arztes zurückliegen, desto mehr verschwimmt das Bild von Josef Mengele in der Geschichte. In Büchern und Filmen dämonisierte man ihn bis zur Karikatur, preisgekrönt wurde „Der Marathon-Mann“ von 1976, in dem Laurence Olivier die Rolle eines untergetauchten SS-Schergen spielte. Mengele wurde in vielen Darstellungen zum „Todesengel von Auschwitz“ stilisiert. Selbst KZ-Überlebende beschrieben ihn als hünenhaft und blond, als Ur-Bild des germanischen Killers. In Wahrheit war der in der schwäbischen Kleinstadt Günzburg geborene Mann dunkelhaarig und durchschnittlich groß.
Es ist sehr schwer, dieses Dickicht des Mythos zu durchdringen. Einen Versuch unternimmt jetzt der US-Historiker David G. Marwell. Der frühere Präsident des Leo-Baeck-Institutes in New York und Berlin ist um einen ruhigen, distanzierten Ton bemüht, umso eindringlicher gerät das Ergebnis: die Schilderung der mörderischen Banalität dieses Lebens. Marwell war im Auftrag des US-Justizministeriums an der Jagd auf Mengele beteiligt, der aber 1979 unbehelligt bei einem Badeunfall an der brasilianischen Küste starb. Der SS-Mann, der unzählige Menschen in die Gaskammern von Auschwitz schickte, der grausame medizinische Experimente verantwortete, der Augen und Schädel sammelte, wurde für seine Verbrechen nie belangt.
Marwell wertete Tagebücher, Briefe und einen autobiografischen „Roman“ Mengeles aus. Er konnte Erkenntnisse nutzen, die der israelische Geheimdienst Mossad erst 2017 freigegeben hat.
Mengele stammte aus einer wohlhabenden bürgerlichen Familie, die in Günzburg mit ihrer Fabrik für Agrartechnik viel Einfluss besaß. Doch Josef erkrankte als Jugendlicher mehrfach schwer und wurde deshalb nicht für „robust“ genug erachtet, das Familienunternehmen zu führen. Er begann, in München das Studium der Humangenetik und Anthropologie zu studieren. Marwell beschreibt, wie sich nach der Machtübertragung an die Nazis 1933 in Deutschland die medizinische Forschung veränderte, wie die „Pflichten des nationalsozialistischen Arztes“ in den Vordergrund rückten, der für die „Gesundheit des Volkskörpers“ zu kämpfen hatte. Mengele wechselte nach dem Staatsexamen 1937 an das „Institut für Erbbiologie und Rassenhygiene“ der Frankfurter Universität. Von hier aus führte ideologisch ein direkter Weg zu den Verbrechen von Auschwitz.
Nachdem Deutschland 1939 den Zweiten Weltkrieg begonnen hatte, meldete sich der zweifach promovierte Arzt zur Waffen-SS. Er gehörte der 5. SS-Panzer-Division „Wiking“ an, die schon in den ersten Wochen nach Kriegsbeginn an der Ermordung Tausender von Juden in Polen beteiligt war. Die blutige Spur von „Wiking“ führte bis zum Spätherbst 1942 bis tief in den Kaukasus.
Tatsächlich ist dieser Teil von Mengeles Leben am schlechtesten dokumentiert. Über seine persönliche Teilnahme an den Verbrechen seiner Einheit weiß man nichts. Das änderte sich, als er im Mai 1943 als Lagerarzt im KZ Auschwitz auftauchte. Sehr nüchtern beschreibt Marwell anhand von Zeugenaussagen, was sich kaum beschreiben lässt. Wie Mengele an der Rampe des Konzentrationslagers Dienst tat, wo die Züge mit Hunderttausenden von verschleppten Menschen aus ganz Europa ankamen. Wie er mit der Bewegung seines Daumens bei der „Selektion“ über den direkten Tod in der Gaskammer oder über eine Gnadenfrist als Arbeitssklave entschied.
Diese absolute Macht über Leben und Tod ließ den Arzt geradezu „aufblühen“, so urteilt Marwell auf der Basis der Berichte. Der Mediziner wählte die Opfer für seine perversen medizinischen Experimente. Er setzte Menschen der Mangelkrankheit Noma aus, die zur Auflösung der Haut führt. Sein besonderes Interesse galt der „Zwillingsforschung“, angeblich um die Geburtenrate der arischen Rasse zu steigern. Er ließ Zwillinge zur gleichen Zeit sterben, um dann ihre Organe zu untersuchen.
Das Buch:
David G. Marwell: Mengele. Biographie eines Massenmörders. A. d. Engl. von Martin Richter. wbg Theiss 2021. 428 S., 28 Euro.
Ein anderes Versuchsfeld waren Augen: Mengele versuchte, durch die Injektion von Chemikalien die Farbe zu verändern. Danach ließ er die Menschen töten und den Leichen die Augen entnehmen. Gleiches galt für die Organe von behinderten Menschen. All das geschah mit der Unterstützung deutscher Wissenschaftler, denen der Arzt Dokumente und Präparate zukommen ließ. Mengele gehörte, wie Marwell schreibt, „zur wissenschaftlichen Avantgarde“ Nazideutschlands.
Diese umfassende Biografie hinterlässt dennoch blinde Flecken. Der US-Historiker kann nicht wirklich erklären, warum der junge SS-Arzt alle Grenzen menschlicher Moral und zivilisatorischer Normen überschritt.
Auch der zweite Teil des Buchs verstört und wühlt auf. Er schildert im Detail, wie der Massenmörder sich 34 Jahre lang, bis zu seinem Tod beim Baden, der Justiz entzog. Bis Ende der 50er Jahre gab es in Deutschland kein Ermittlungsverfahren gegen den Mediziner. Noch 1956 konnte er unbehelligt unter falschem Namen seine Familie in Deutschland und etliche Freunde besuchen.
Hilfreich war, dass Mengele keine SS-Tätowierung trug. So geriet er 1945 zwar in US-Gefangenschaft, wurde aber rasch entlassen. Drei Jahre lang versteckte er sich als „Knecht“ auf einem Bauernhof im Voralpenland. Im Herbst 1948 schmuggelte ihn ein Netz von Helfern entlang der sogenannten „Rattenlinie“ über die Alpen und Südtirol zum italienischen Hafen Genua, dann per Schiff nach Argentinien.
Diesen Weg nahmen damals zahlreiche ranghohe Repräsentanten des NS-Regimes. Warum konnte Mengele entkommen? Es fällt auf, dass Marwell recht zurückhaltend über die Schuld der Deutschen urteilt. „Die bundesdeutsche Bilanz bei der Verfolgung von NS-Verbrechern wird zwar oft unterschätzt, blieb aber weit hinter dem zurück, was möglich gewesen wäre und was die Opfer der Naziverbrechen erwarten konnten.“ Die deutschen Behörden, über Jahrzehnte von Nazi-Juristen durchsetzt, unterließen lange simpelste Schritte, etwa die Überwachung des Briefverkehrs von Mengele mit seiner Familie in Deutschland.
Die deutsche Botschaft in Buenos Aires stellte ihm 1956 sogar einen Reisepass unter dem Namen José Mengele aus. Erst der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer setzte den KZ-Arzt 1963 auf die Liste der 95 Personen, gegen die bei den Auschwitz-Prozessen in Frankfurt ermittelt wurde. Vergeblich.
Ganz nahe kamen dem Massenmörder wahrscheinlich 1962 Zielfahnder des israelischen Geheimdienstes Mossad. Sie spürten Mengele angeblich auf einer Farm in Brasilien auf. Doch sie wurden abgezogen, offenbar, weil Israel die Hilfe deutscher Wissenschaftler beim ägyptischen Raketenprogramm für dringlicher hielt. So verlor sich die Spur wieder.
Auch hier bleiben viele Fragen offen. Die Ermittler fanden später heraus, dass Mengele in Brasilien noch kurz vor seinem Tod seinen Sohn Rolf traf. Der ließ ihn unter dem Namen Helmut Gregor in einem Vorort von São Paulo beisetzen. Sechs Jahre später entdeckten deutsche und brasilianische Kriminalbeamte das Grab.