David Graeber: „Piraten“ – Freibeuter und Pioniere der Freiheit

Ein Buch des Anthropologen David Graeber wirft neues Licht auf die Zeit der Piraten.
Piraten – wir alle kennen sie aus alten und neueren Hollywood-Streifen. Und wer sich fragt, ob es wirklich jemals Piraten gegeben haben mag, die Antwort lautet: ja. Es gab sie wirklich vor rund 300 Jahren. Der Historiker Eric Hobsbawm beschrieb die Piraten der Karibik in seinem Buch „Die Banditen“ als Sozialbanditen. Als ihr Zuhause gilt vor allem die Piratenrepublik „Libertalia“ auf Madagaskar. Man kennt ihre Geschichte durch einen großen Autor der Weltliteratur, Daniel Defoe, der Verfasser von „Robinson Crusoe“. Die legendäre Piratenrepublik Libertalia war eine basisdemokratische Gesellschaft, in der es keine Sklaverei gab, keine Unterdrückung von Frauen durch Männer und keinen Rassismus. Und das knapp hundert Jahre vor der Französischen Revolution und der Erklärung der Menschenrechte. Nicht nur das: Erst zweihundert Jahre später wird weltweit nach und nach das Wahlrecht für Frauen durchgesetzt.
Muss man die Piraten im 17. und 18. Jahrhundert nicht einfach als Raubmörder bezeichnen, mögen sich viele fragen. Das waren sie auch, aber eben nicht nur. Dass man sie mit der Idee eines freien Lebens unter Gleichgestellten in Verbindung bringt, die fernab der eigentlichen Zivilisation mit ihren Zwängen lebten, hat einen wahren Kern. Das weiß man spätestens seit Hobsbawms Buch.
Doch diese Piraten haben mehr auf dem Kasten als wilde Degenduelle. Sie haben im Grunde die gesamte Aufklärung des Westens vorbereitet und mit ihr die Demokratie. Das ist die These eines Buches, das von dem vor zwei Jahren im Alter von 59 Jahren verstorbenen Anthropologen und Aktivisten David Graeber verfasst und nun veröffentlicht wurde. Grundlegende Ideen des Westens hätten auf einer Insel östlich von Afrika ihren Ursprung und nicht etwa in den erst später verfassten Schriften der großen europäischen Denker. Madagaskar statt Montesquieu also. Und dass sich Philosophen wie John Locke oder Jean-Jacques Rousseau von Berichten und Sitten fremder Völker gerne anregen ließen, sei verbrieft, erklärt Graeber: „Britische und französische Autoren ließen sich zweifellos von der Neuartigkeit solcher Vereinbarungen über Formen des Zusammenlebens zu Fantasien über Piraten-Utopien inspirieren wie etwa über Libertalia“, schreibt er in seinem Buch „Piraten. Auf der Suche nach der wahren Freiheit“, das kräftig am westlichen Selbstbild rüttelt.
Denn Graeber behauptet nicht weniger, als dass unsere modernen Vorstellungen über eine offene Gesellschaft ein Import aus dem globalen Süden seien. Galt der Westen vor allem auch in seiner Selbstbespiegelung als das Maß aller Dinge in Sachen Aufklärung, so gab es in den vergangenen Jahren eine Vielzahl von Publikationen, die darauf hinweisen, dass er kein Solitär gewesen ist. Erinnert sei an Amartya Sen, der den Spuren des aufklärerischen Denkens in der indischen Geschichte nachspürte und bezweifelte, dass die Sonne der Weisheit nur im Westen aufgegangen sei.
Graeber, der sich dem politischen Anarchismus verschrieben hatte, versetzt diesem Selbstverständnis den nächsten Hieb, um im Bilde des Piraten zu bleiben. Dem Vordenker und Aktivisten der „Occupy Wall Street“-Bewegung geht es in seinem Piratenbuch darum zu zeigen, dass egalitäre Gesellschaftsmodelle echte Alternativen bieten könnten. Darauf hatte er bereits in dem ebenfalls posthum publizierten Buch „Anfänge“ hingewiesen.
Das Buch
David Graeber: Piraten. Auf der Suche nach der wahren Freiheit. A. d. Engl. v. Werner Roller. Klett-Cotta, Stuttgart 2023. 256 S., 24 Euro.
Graeber beruft sich für seine These auf Feldforschungen, die er Ende der 1980er Jahre auf Madagaskar betrieben hatte. Die Piraten aus der Karibik, die sich Ende des 17., Anfang des 18. Jahrhunderts hier niedergelassen hatten, hätten sich mit der indigenen Bevölkerung vermischt. Ihre Nachkommen schufen kleine staatenähnliche Gemeinschaften. Sie seien Pioniere demokratischer Regierungsformen gewesen, erklärt Graeber.
Das Wirtschaftssystem habe sozialistische Strukturen aufgewiesen. Zudem habe es gleiche Rechte für alle Männer und Frauen gegeben. Es habe sich im Grunde um kleine Republiken gehandelt, eine Art politischer Laboratorien für zukünftige Modelle.
Auch auf Piratenschiffen gab es Anführer. Dennoch herrschten dort demokratische Verhältnisse. Denn diese Anführer konnten sich nur im Rahmen eindeutig geregelter Kompetenzen verhalten. Besonders bedeutsame Entscheidungen durften sie nicht allein fällen. Diese wurden erst nach gemeinsamer Beratung durch die Gemeinschaft getroffen. Das Modell habe auf See bestens funktioniert. Diese Art der Herrschaftsausübung sei daher auch auf Madagaskar praktiziert worden: Basisdemokratie, Gleichheit von Männern und Frauen ungeachtet ihrer Hautfarben, zusammengewürfelt aus vielen Ländern.
Die Piraten an der Nordostküste Madagaskars in der Zeit um das Jahr 1700 seien globale politische Akteure im umfassenden Sinne gewesen, resümiert Graeber. Ihr politisches Handeln habe die Fantasie der westlichen Denker angeregt. Nicht nur die Demokratie, auch die Aufklärung habe ihre Wurzeln nicht in den Salons des Westens, sondern an den Sandbänken Madagaskars. Dort hätten wichtige Denker zur Freiheit des Menschen und Pioniere der Demokratie gelebt.
Graebers Buch ist nicht nur für Piratenfans oder Aktivisten und Aktivistinnen spannend, sondern für alle, die sich für die Zukunft der Gesellschaft und den Wandel von Machtstrukturen interessieren. Es bietet eine ungewöhnliche Perspektive auf die Geschichte. Zudem bereitet es große Leselust und ist eine faszinierende Analyse der Piratenbewegung und ihrer Bedeutung für heute. Es macht Spaß und regt an, auch wenn Graeber letztlich keine harten Beweise für seinen Ansatz liefern kann.