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Dauernde Momente

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Von: Harry Nutt

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Gabriele Goettle beleuchtet die unterschiedlichen Lebensentwürfe von Frauen.
Gabriele Goettle beleuchtet die unterschiedlichen Lebensentwürfe von Frauen. © dpa

Gabriele Goettles Reisen in den unbekannten Alltag sind einzigartig und zeichnen sich durch ihre feine Wahrnehmung und die Aufmerksamkeit für Details aus.

Ihre Texte kann man kennen. Seit bald 30 Jahren erscheinen sie in der Berliner taz regelmäßig einmal im Monat als Langkolumne. Das ganze Feuilleton wird an diesem Tag dafür freigeräumt. Eine genaue Gattungsbezeichnung fällt jedoch schwer. Der Titel der Rubrik heißt „Freibank. Kultur minderer Güte“. Es sind Porträts, protokollierte Gespräche, dichte Alltagsbeschreibung mit sparsam eingesetztem Reportageanteil. Meist sprechen andere. Gabriele Goettle und ihre Begleiterin, die Zeichnerin Elisabeth Kmölninger, hören zu. Und es ist wahrscheinlich nicht übertrieben, dass es diese Kunst des Zuhörens ist, die diese Texte überhaupt erst haben entstehen lassen.

Einmal zwischen die Buchdeckel gewandert, verwandeln sie sich von der seltsam-sperrigen journalistischen Form in Literatur. Es wird eine Methode sichtbar, die Texte treten zueinander in Beziehung, und aus der zufällig erscheinenden Alltagsbegegnung wird ein Stück Sozialforschung. Gabriele Goettles unabgeschlossenes und wohl auch unabschließbares Werk ist eine einzigartige Enzyklopädie aus Menschen, in der, sprunghaft und geduldig zugleich, eine bundesrepublikanische Geschichte der letzten 30 Jahre von unten erkennbar wird. Unauffällig und unaufdringlich überführt Goettle Lebensgeschichten in ihr Werk, die ohne die Entdeckerlust der Autorin in den meisten Fällen wohl unerzählt geblieben wären.

In „Der Augenblick. Reisen durch den unbekannten Alltag“ widmet Gabriele Goettle sich 26 Frauen, die jede auf ihre Weise ein Lebensprojekt repräsentieren. Planvoll und zufällig, schlüssig und bruchstückhaft, durchdacht und verzweifelt. Mitten im Leben und am Rande der Gesellschaft.

Kontraste machen das Leseereignis aus

„Also, ich habe ganz klein angefangen“, erzählt die Buchhändlerin und Verlegerin Bettina Wassermann, „war quasi die erste linke Buchhandlung und habe den gesamten Marx bestellt. Da war der Laden dann bereits so gut wie voll, insgesamt übervoll.“ Die Geschichte Bettina Wassermanns eröffnet Goettles Porträtsammlung und sie führt zurück in die Zeit, in der sich Menschen über Bücher zu definieren schienen. In ihrer Bremer Buchhandlung kam der Fußballtrainer Otto Rehhagel vorbei, um Gedichtbände zu kaufen, und in ihrer Küche saß der marxistische Philosoph Alfred Sohn-Rethel, dessen Partnerin Bettina Wassermann bis zu dessen Tod war. Zwischen Bücherstaub und Geschäftstüchtigkeit blitzt ein Stück Geistes- und Ideengeschichte auf und wie diese sich für einige Zeit in einem linken Buchladen realisierte.

Es sind die Kontraste, die Goettles Buch zu einem Leseereignis machen. Mit gleichschwebender Aufmerksamkeit hört die Autorin einer Medizinhistorikerin zu, die über Seuchen forscht, und sie lässt eine Bodybuilderin das Klischee von der dummen Blondine mit Körperwahn enttarnen. Die Muskeln ihres Körpers zu formen, erlebt Ingrid Distler, Weltmeisterin im Bodybuilding, als besondere Form der Selbstwahrnehmung.

Gabriele Tammen-Parr ist Leiterin des Krisentelefons, der Beratungstelle Pflege in Not, die sich mit Gewalt gegen Alte in der Pflege befasst. „Ich habe mich damals umgehört“, berichtet sie, „teilweise wird da unsanft angefasst oder zu heiß gebadet, oder es wird auf den Ruf nicht mehr reagiert … Und so entstand bei mir die Idee, diese Stelle zu gründen.“

Eine Leichenpräparatorin, eine Kioskfrau und eine Bienenforscherin sind weitere Personen dieser Porträtsammlung, für die der Alltag oft als Mühsal, aber auch als wundersame Form des Weitermachens erscheint. Gabriele Goettle vernimmt nur. Sie wertet nicht und stellt nicht richtig. Was gesprochen wird, ist ihr gleich viel wert. Und in der Aufmerksamkeit für die Details liegt wohl auch der Wert dieses Aufschreibprojekts.

Man kann der taz nicht genug danken, dass sie dieses großartige Lebenswerk so lange Zeit ermöglicht hat. Die Redakteure wechselten, geblieben ist eine Autorin, die ein unvergleichliches Stück Zeitungs- und Zeitgeschichte geschaffen hat.

Gabriele Goettle: Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag. Kunstmann, München 2012. 400 Seiten, 22,95 Euro.

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