Leben 1946 in der Türkei geboren, wurde sie Schauspielerin, kam 1976 nach Deutschland, spielte und inszenierte in Ost und West, schrieb. 1991 erhielt sie den Bachmann-Preis. Emine Sevgi Özdamars neuer Roman ist so prallvoll mit Leben und den zu ihm gehörenden Fantasien, dass es immer wieder auch kein Roman mehr zu sein scheint.
Emine Sevgi Özdamar: Ein von Schatten begrenzter Raum. Roman. Suhrkamp. 765 S., 28 Euro.
Wunde Das Buch des Jahres ist am Ende eben doch Eva Menasses Österreich-1989-und-NS-Vergangenheitsverdrängungs-Roman „Dunkelblum“. Woran erkennt man diesen aber? Daran, dass er weise und witzig, beinhart und sanft ist, um die Zartheit des Lebens weiß und Triftiges erzählt. Daran, dass man nach 1 Absatz erstmals vor ihm in die Knie geht.
Eva Menasse: Dunkelblum. Roman. Kiepenheuer & Witsch. 524 S., 25 Euro.
Windig Auf Bücher des Zeichners Nicolas Mahler zu achten, ist immer nützlich, aktuell etwa auf die in der Tat unkorrekte, aber wahrhaftige Thomas-Bernhard-Biografie. Schon der kleine Wurm ragt aus dem Einerlei der Wiegen und denkt: „Meine Krankheit ist die Distanz.“ Wird zu wenig über Bernhard gesprochen? Tun Sie etwas dagegen!
Nicolas Mahler: Thomas Bernhard. Die unkorrekte Biografie. Suhrkamp. 126 S., 16 Euro.
Wende Scharfe Konkurrenz kommt von Jenny Erpenbecks „Kairos“, einem Liebesroman, der ebenfalls 1989 spielt, aber aus einer ganz anderen (DDR-) Perspektive. Zum Schluss: selten so geschämt als Westdeutsche. Darum sofort in Streit geraten mit anderen Westdeutschen. Aber keine Sorge, das geschieht ja alles viel später, nicht unterm Baum.
Jenny Erpenbeck: Kairos. Roman. Penguin. 382 S., 22 Euro.
Wuchtig Wer alles hat, braucht aber noch die Einspielung aller Robert-Schumann-Lieder von Christian Gerhaher und Gerold Huber. Elf CDs, 299 Lieder. Gerhaher ist der skrupulöseste der uns bekannten Sänger, hier in den Fußstapfen von Dietrich Fischer-Dieskau, der Gerhaher einst riet, doch bei der Medizin zu bleiben. Er nahm das später zurück.
Christian Gerhaher/Gerold Huber: Schumann. Alle Lieder. 11 CDs. Sony. Ca. 60 Euro.
Rücken Wenn’s hinten wehtut und fast nichts hilft, sogar dann hilft immer ein Bilderbuch aus der Frankfurter Labor Ateliergemeinschaft. Hier: vom kongenialen Duo Moni Port und Philip Waechter. Sie hat Rücken und probiert alles aus. Alles. Dabei zuzuschauen und zuzulesen macht die Welt wieder ein bisschen besser.
Moni Port & Philip Waechter: Sie müssen den Schmerz wegatmen! Kein & Aber. 80 S., 15 Euro.
Rocken Wenn’s voll reinhaut, in die Beine geht und an die Stray Cats erinnert oder gar an die 50er, sind hier drei Damen schuld: die Silverettes. Aus Ostwestfalen-Lippe. Ihr drittes Album in zehn Jahren Bandgeschichte hat alles, was es braucht, um die Sehnsucht nach Bühnenspektakel anzuheizen. Seufz’n’Roll.
The Silverettes: Risky Business. CD. Tobago/Recordjet (Edel). Ca. 18 Euro.
Rufen Wenn’s um einen Ort in Japan geht, der den Menschen gegen jede Vernunft hilft, dann hat die in Italien geborene Laura Imai Messina voll ins Schwarze getroffen. Wie sie dieses Buch komponiert, einfallsreich, zugewandt, munter trotz aller Schicksalsschwere, das ist eine Lesefreude, die gar nicht enden soll.
Laura Imai Messina: Die Telefonzelle am Ende der Welt. Roman. A. d. Ital. v. Judith Schwaab. btb. 352 S., 20 Euro.
Rühren Wenn’s keinen Rassismus gäbe auf der Welt, dann hätten mehr Menschen nach dem Krieg ihr Glück gefunden. Um einige von ihnen geht es in diesem streckenweise bewegenden Roman, der in zwei Zeiten spielt. Und man lernt etwas über Unmenschlichkeit, die mit dem Schweigen der Waffen nicht endet.
Susanne Abel: Stay away from Gretchen. Roman. dtv. 528 S., 20 Euro.
Poetisch Ewart Reders Gedichte entwickeln einen Sog: Man steigt ein und ist für einen Moment in einer Welt, die sich sanft anfühlt, aber auch brutal ehrlich sein kann. Ein Kosmos voller Körperlichkeit und Berührungen, in dem jetzt, gleich und damals eins sind und auf einen zarten Begriff wie „Kusswunsch“ ein trockenes „Klärwerk“ folgen kann.
Ewart Reder: Die hinteren Kapitel der Berührung. Gedichte. Pop Verlag. 201 S., 18,50 Euro.
Japanisch Bildhauerei und Kochen haben mehr miteinander zu tun, als man denkt. Im Idealfall kreiert man in beiden Fällen etwas, das die Sinne begeistert. Shinroku Shimukawas Kochbuch ist nicht nur optisch, sondern auch kulinarisch ein Kunstwerk. Zum Beispiel durch ein Rezept für Raps, den man mit weißem Sesam und Sojasauce verfeinert.
Shinroku Shimokawa: Man kann keine Steine essen. Prima.Publikationen. 235 S., 35 Euro.
Rhythmisch Dass die Mehrheit der Frauen sich nicht für Popmusik jenseits des Mainstreams begeistert, ist seltsam. Zum Glück gibt es Ausnahmen wie FR-Autorin Christina Mohr, die eine Auswahl ihrer gesammelten Musikkritiken vorlegt. Das ist so kenntnisreich und anschaulich, dass man die erwähnten Alben als Empfehlungsliste verwenden kann.
Christina Mohr: Female Sounds & Words. Von Riot Grrrls und Discodiven. Verlag Andreas Reiffer. 150 S., 10,50 Euro.
Himmlisch Wer jemals daran gezweifelt hat, dass Vögel ausdrucksvolle Charaktere besitzen, wird die Tiere nach der Lektüre dieses Bildbandes sicher mit anderen Augen betrachten. Der preisgekrönte Tierfotograf Tim Flach zeigt Vögel nicht nur als prächtig kreierte Wesen. Seine Bilder sind auch sensible Porträts eigenwilliger Individuen.
Tim Flach: Vögel. Knesebeck Verlag. 336 S., 68 Euro.
Der malende Dichter Der Maler Joachim Ringelnatz ist mehr als eine Entdeckung. Von den Nationalsozialisten wurde er verfemt, so geriet das bildnerische Werk des Dichters in Vergessenheit. Umso moderner wirken diese Bilder jetzt in ihrem introvertierten Surrealismus.
Jürgen Kaumkötter (Hrsg.): Joachim Ringelnatz – Der Maler. Favoritenpresse. 176 S., 24 Euro.
Der exilierte Künstler Endlich eine definitive Biografie des Bauhaus-Künstlers und früheren Comic-Zeichners Lyonel Feininger, basierend auf umfangreichen Archivrecherchen – und zugleich ein Lesevergnügen: Andreas Platthaus ergründet die zentralen Fragen dieses Exilantenlebens.
Andreas Platthaus: Lyonel Feininger. Porträt eines Lebens. Rowohlt Berlin. 448 S., 28 Euro.
Die minimalistische Künstlerin Ein wunderschönes Künstlerbuch der österreichischen Filmemacherin und Malerin Mirjam Baker, darin monochrome Pastelle aus ihrem abstrakten Animationsfilm „Staub“: Verführerische Farblandschaften und schwelgerischer Minimalismus.
Mirjam Baker: Staub. Über Buchhandlung Walther König. 40 S. , 25 Euro.
Die einzige Notwendigkeit Dies ist der einzige Streamingdienst, den Filmliebhaberinnen und -liebhaber wirklich brauchen. Eine Cinemathek mit bestem Geschmack, fast frei von Fehlgriffen, dafür voller Retrospektiven von Agnès Varda bis Kiarostami – und dazu mit neuen Entdeckungen.
Streamingdienst MUBI: Monatlich 8,99 Euro.
Laut Nein, keine Sorge, Sven Regener schreit beim Vorlesen nicht herum. Aber in Ihrem Kopf könnte es laut werden: Wenn Sie die Augen schließen, hört Ihr Hirn die Musik der titelgebenden Band aus dem alten West-Berlin gleich mit – inklusive Bohrmaschine. Die Dialoge im Regener-Sound sind sowieso wieder garantiert.
Sven Regener: Glitterschnitter. Tacheles/Roof Music. 2 CDs. Ca. 16,50 Euro.
Vertraut Klaus Dörre wagt sich an einen Begriff, den alle kennen und viele nicht mehr hören wollen. Sein Sozialismus steht für nichts Geringeres als ein Schlüsselprojekt der kommenden Jahre: dem Kapitalismus sowohl ökologisch als auch sozial radikale Veränderung abzuringen – und ihn dabei womöglich zu überwinden.
Klaus Dörre: Die Utopie des Sozialismus. Kompass für eine Nachhaltigkeitsrevolution. Matthes & Seitz. 345 S., 24 Euro.
Gebaut Noch ist es nicht in Betrieb, das Haus der Migrationsgeschichte in Köln, aber es steht: Die Dokumentationsstätte der Migration (DOMiD) kommt. 30 Jahre lang hat der gleichnamige Verein darum gerungen, und hier ist die Geschichte, stellvertretend für Einwanderung in Deutschland, anschaulich dokumentiert.
Manuel Gogos: Das Gedächtnis der Migrationsgesellschaft. Transcript. 272 S., 40 Euro. Als PDF kostenlos.
Geklaut Und noch ein Buch gewordenes Museum: Die Geschichte des Kunstraubs in 86 Bildern. Faszinierend, die amtlichen Diebe in den Kolonien stolz neben ihrer Beute posieren zu sehen. Dazu kurze, informative Texte. Das ist Aufklärung über historische Verbrechen, noch dazu in absolut unterhaltsamer Form.
Bénédicte Savoy u.a. (Hg): Beute. Ein Bildatlas zu Kunstraub und Kulturerbe. Matthes & Seitz. 389 S., 38 Euro.
Lichtzeichen In ihrem Debütroman erzählt die junge indische Autorin Megha Majumdar in wechselnden Perspektiven die Geschichte einer falschen Verurteilung – kompromisslos, direkt und fesselnd. Ihr Land, die bevölkerungsreichste Demokratie der Welt, kommt dabei nicht gut weg. Ein flammendes Plädoyer für Gerechtigkeit.
Megha Majumdar: In Flammen. Roman. A. d. Engl. v. Yvonne Eglinger.Piper.336 S., 22 Euro.
Ausrufezeichen Schauspieler, die Bücher schreiben, oha, das muss nicht unbedingt gutgehen, versucht haben das ja schon einige. Bei Edgar Selge liegt der Fall anders: Seine teils autobiografische Geschichte einer bürgerlichen Kindheit in den 1960ern ist so eindringlich, berührend und kunstfertig, der Mann sollte – fast – nichts anderes mehr tun.
Edgar Selge: Hast du uns endlich gefunden. Roman. Rowohlt. 304 S., 24 Euro.
Sonderzeichen Das Problem ist: Wer gerne schreibt, sollte Anthony Doerr besser nicht lesen. Dabei kann nur herauskommen: Wenn man nicht SO schreiben kann, sollte man es lassen. Und sich an seiner besonderen Gabe, seiner (Pulitzerpreisgekrönten) Sprache, seiner Detailliebe, seinen Gaukelbildern, einfach nur besaufen.
Anthony Doerr: Wolkenkuckucksland. Roman .A. d. Engl. v. Werner Löcher-Lawrence. C. H. Beck. 532 S., 25 Euro.
Fragezeichen Doch, das ist ein Geschenk für Erwachsene. Nicht nur für jene, die die drei Detektive noch als Kinder kennen und mit ihren Stimmen im Ohr groß geworden sind. Seit 1979 lösen Justus, Peter und Bob spezialgelagerte Sonderfälle – und jedes Jahr neue. Eine herrliche Hörspielreise unter die Bettdecke der Kindheit.
Die drei ???: Der Fluch der Medusa. Folge 213. Hörspiel. CD. Europa (Sony Music). 7,99 Euro.