Der Dandy und der Klassenkampf

Xiao Bais raffinierter Roman „Die Verschwörung von Shanghai“ erzählt eine Geschichte vom Anfang der 30er Jahre.
Ein Autor liest zwischen den Blättern, buchstäblich. Im Nachwort zu seinem Roman „Die Verschwörung von Shanghai“ (Orig. „Zu Jie“, 2015) beschreibt Xiao Bai, wie er im Shanghaier Stadtarchiv nach Dokumenten vom Anfang der 30er Jahre sucht. Doch nach dem Zweiten Weltkrieg, es waren arme Zeiten, wurden die alten Akten der Kolonialbehörden weiterverwertet, indem die beschrifteten Seiten zweier Blätter zusammengeklebt, die leeren Rückseiten für neue Unterlagen genutzt wurden. „Trotz der strengen Regeln des Archivs“, schreibt Xiao Bai, „wurde mir gelegentlich erlaubt, die Blätter vorsichtig voneinander zu trennen, so dass ich den Inhalt auf der Innenseite abschreiben konnte.“ Glücklicherweise war der damals verwendete Klebstoff mürbe geworden.
Doch es gab im Archiv nicht eben viel zu finden. Zum Beispiel aber eine Fotografie, der Name „Hsueh Weiss“ ist auf der Rückseite notiert, auf der ganz am Rand ein Mann mit dem Rücken zur Kamera steht und sich mit der linken Hand ins Gesicht fasst. „Hatte er die Gewohntheit, sich an der Nase zu kratzen?“, fragt der Schriftsteller. Hsueh Weiss, soviel scheint festzustehen, hatte eine chinesische Mutter und einen französischen Vater, stieg innerhalb der Konzessionspolizei, wie aus Besoldungslisten ersichtlich, erstaunlich schnell auf, unterschrieb jahrelang Durchsuchungsbefehle und Polizeiberichte.
Und er war wohl beauftragt, Kontakt (eine Liebelei?) aufzunehmen zu einer den Behörden immens dubios erscheinenden Frau – besagtes Foto wurde ihretwegen gemacht –, die als „Irxmayer, Therese“ und „Hauptverdächtige“ geführt wurde. Ein Satz vor allem, den er zwischen zwei Blättern findet, setzt dann Xiao Bais Romanfantasie in Gang: „Leutnant Sarly interessiert sich für diese Weißrussin“ notiert im Juni 1931 ein Angestellter der Politischen Abteilung der französischen Konzessionspolizei von Shanghai.
Leutnant Sarly war damals Leiter dieser Polizeiabteilung, „diese Weißrussin“ war die Witwe eines gewissen Hugo Irxmayer. Umtriebig – auch in nicht ganz legalen Geschäften – und lebenslustig war Therese Irxmayer offenbar auch. Aber vielleicht hat das Xiao Bai auch schon komplett erfunden.
Zum furiosen Romanbeginn sieht (und fotografiert) Hsueh auf einem Schiff eine schöne, weinende Unbekannte. Dann legt die Paul Lecat auch schon an, wird der Chef der Shanghaier Militärjustiz erwartet, unter anderem von seinem Mörder. Gleich wird auch ein Manifest verbreitet, „in dem es hieß, die Spezialabteilung der Kommunistischen Partei in Shanghai und ihre Genossen von der Volksmacht hätten im Namen des chinesischen Volkes den Konterrevolutionär Ts’ao Chenwu hingerichtet“. Und Hsueh erkennt in der Zeitung die traurige Unbekannte wieder, sie heißt Leng und war die Frau des „Konterrevolutionärs“.
Bekanntschaften und Bespitzelungen folgen, kreuz und quer. Verwicklungen, Verhaftungen, Intrigen, Überfälle aus dem Hinterhalt. Die Green Gang spielt mit, eine Art Mafia. Die Kuomintang-Regierung spielt mit. Die britischen und französischen Kolonialisten spielen mit, wobei die Briten finden, dass die Franzosen gegenüber den sich ausbreitenden Kommunisten viel zu lasch sind. Hsueh, von Natur ohne störende Prinzipien, ist der Liebhaber von Therese, lässt sich aber auch mit Leng ein. Leng soll ihn für die Kommunisten anwerben. Aber auch Leutnant Sarly erkennt das Potenzial des jungen „Konzessions-Dandys“. Indessen ist der hübsche Hsueh verwirrt von all der Aufmerksamkeit. Und von all den neuen Wörtern, „die auf dem Weg über Japan und die Sowjetunion aus Europa kamen“: Klassenkampf zum Beispiel. Oder Imperialismus.
Aber er lernt schnell. Ein guter Fotograf ist er schon. Ein guter Polizeispitzel wird er noch werden.
Xiao Bai lässt Schatten und ihre Ungewissheiten und Vieldeutigkeiten zu. Er zeichnet nicht schwarz und weiß. Seine Figuren erscheinen manchmal herzlich unmoralisch, manchmal opportunistisch, bisweilen als Überzeugungstäter, sind womöglich auch nur diskret bei ihrer Sache und darum schwer einzuschätzen. Der schneidige Ku, Anführer der Kommunisten, mag ein praktisch denkender Idealist sein, aber es bleibt durchaus offen, ob er es nicht auch auf Geld und den Ruhm des Terrors abgesehen hat. Gar nicht unangenehm findet er nämlich die Vorstellung, dass die Leute Angst vor ihm haben.
Seinen spektakulärsten Coup plant er für den 14. Juli, Nationalfeiertag, in der französischen Konzession. Denn braucht der Schrecken nicht das passende Publikum? Aus einer Filmcrew wird ein Kameramann (mit Arbeitsgerät) entführt, die Welt soll sehen, was Ku kann. Hätte es 1931 schon ein World Wide Web gegeben, Ku hätte es zu nutzen gewusst.