Clemens J. Setz „Monde vor der Landung“: Der Mann in der Blase

Die Hohlkugel und die Hohlköpfe: Clemens J. Setz erzählt in seinem fulminanten Roman „Monde vor der Landung“ von einem verrückten Menschen und bösen Zeiten.
Während unsereiner sich dieser Tage daran erfreut oder davor graust, dass eine Künstliche Intelligenz ordentliche Sonette verfassen kann, hat Clemens J. Setz schon 2018 in dem Buch „Bot“ bewiesen, dass die originellste KI immer noch der Schriftsteller selbst ist. Und während die anderen noch grübeln, ist er schon wieder viel weiter, ganz woanders und hat in der Vergangenheit eine Geschichte aufgestöbert, die nicht nur seinem Sinn für das Abwegige und Alleinstellerische entgegenkommen muss. Sie erhellt auch Gedankengänge der Gegenwart, obwohl es eine dunkle Geschichte ist.
Die Vorlage dafür ist unwiderstehlich, sie ist so hervorragend, dass der Glückspilz von Autor, der sie gefunden hat, vor allem zusehen muss, dass es jetzt nicht schiefgeht. Die Geschichte wiederum hat Glück, dass Setz der Finder war. Es geht um einen Mann, der dazu aufruft: „Selbst recherchieren. Nicht in Zeitungen. Eigene Gedanken wagen.“ Der Mitsoldat im Ersten Weltkrieg nimmt ihm aber nicht einmal ab, „dass Gasmasken die Überlebenschancen bei einem Angriff in der Regel verringerten anstatt erhöhten“. Denn der Mitsoldat „glaubte lieber, was man ihm von staatlicher Seite an Wissen vorsetzte“. Der Mann, um den es hier geht, ist ein Querdenker anderer Stunde, und er selbst hätte gegen diese Zuschreibung gewiss nichts einzuwenden. Dies alles in seinem Fall mit dem hochgemuten Gefühl von Menschen verbunden, die sich dem 19. Jahrhundert noch tief verbunden fühlen. Hochgemut, hochmütig, durchgeknallt. „Auch er selbst hatte schon Kant widerlegt.“
Aber das ist noch nicht der Kern. Der Kern ist, dass Peter Bender, 1893 in Bechtheim bei Worms geboren, glaubte, die Erde sei hohl und werde an der Innenwand bevölkert, bebaut und so weiter. Sonne, Mond und Sterne sind entsprechend in der Mitte platziert und bei weitem nicht so groß, wie gemeinhin angenommen wird. Bälle und Bällchen, Kartoffeln, Äpfel. Könnte man durch den Himmel hindurchschauen, wäre dahinter wieder Erde, andere Länder und Kontinente. Die Sache wird noch einmal plastischer, wenn man weiß, dass Bender mit einigen Mitstreitern (zweien) die Wormser kosmologische Vertikalreise-Gesellschaft gründete. Dadurch ließe sich freilich viel Zeit sparen.
Peter Bender war nicht der einzige Verfechter der Hohlwelt-Theorie, aber sehr viele gab es nicht (einige gibt es immer noch oder wieder). Zugunsten von Bender könnte man sagen, dass man die Erde damals noch nicht von außen sah, obwohl, nein: Es gibt nichts, was man zu seinen Gunsten sagen kann. Oder ausschließlich dies: Setz hat ihm einen ihm gegenüber zärtlichen Roman gewidmet, und man kann die Zärtlichkeit nachvollziehen.
In „Monde vor der Landung“ ist Bender ein Verrückter und Spintisierer, dazu ein egomanischer Verdränger, ein Möchtegernreligionsführer, ein anstrengender, untreuer Ehemann, eine verkrachte Existenz und tragische Figur. Aber er ist nicht böse. Er ist empfindlich – egoistisch und selbstbezogen gewiss, nachher aber auch, als es fürchterlich wird, mitleidig. Setz’ Bender ist auf eine physische Weise mitleidig, das ist auch ganz folgenlos, dafür ist er zu sehr in sich verwickelt, auch zu ängstlich. Aber im Roman frappiert dennoch die Volte, dass ausgerechnet Bender am Ende Mensch unter Mitläufern und Tätern ist.
Da man es beim Lesen ohnehin irgendwann vor Anspannung nicht mehr aushält, wird man im Internet nachschauen und erfahren, dass Peter Bender 1944 im KZ Mauthausen ermordet worden ist. Seine Frau Charlotte ist in Auschwitz ermordet worden. Beide Kinder überleben.
Die Romananlage ist groß und vorerst verschlungen. Wie in der Hohlwelt Licht und Bilder je nach Wetterverhältnissen verwirrend reflektieren können, so springen auch Stationen von Benders Leben zunächst vor und zurück. 1920 setzt die Handlung ein, Bender plant gerade eine Kundgebung zur Feier der „Menschheitsgemeinde Worms“ vor dem Lutherdenkmal und hat Ärger mit den Behörden. „Man drohte ihm mit Irrenhaus und Ordnungsstrafen. Bender zeigte dem Brief beim Lesen die Zunge. Die Dummheit dieser Leute tat ihm in der Seele wohl. Stell dir vor: sich dagegen zu wehren, dass Worms die Stadt der Menschheit wurde!“
Das Buch:
Clemens J. Setz: Monde vor der Landung. Roman. Suhrkamp, Berlin 2023. 520 Seiten, 26 Euro.
Zu seinen Erlebnissen als Freiwilliger und Flieger im Ersten Weltkrieg gehört ein Absturz mit Kopfverletzung – was einem bedeutsam vorkommt –, früh zeigt sich sein Talent als Redner. Als Wormser Anführer während der stürmischen Arbeiter- und Soldatenräte-Phase imponiert er (die Lokalzeitung berichtet, das Buch ist durchsetzt mit Lese- und Archivfrüchten), wird aber rasch wieder abgesetzt. Zu „radikal“, zu „exzentrisch“.
„Aber was sollten diese Wörter überhaupt bedeuten“, lässt Setz ihn denken, ein interessanter Gedanke, ist Bender doch nach und nach ein Mann ohne Maß, dem der eigene Irrsinn nicht auffällt. Fantastisch, wie er sich nachher in einer Anstalt erkundigt, ob es hier denn keine Kaiser von China gebe. Eine vernünftige Frage, auf die aber bloß mit stumpfem Staunen und Humorlosigkeit reagiert wird. Bender hat Humor. Er fühlt sich so ernst und bedeutend, er ist so lebhaft, fahrig, zornig und verbissen und unerträglich eigentlich, aber Setz erzählt auch Dinge über ihn, die er selbst – vielleicht – gar nicht von sich weiß. Dass er ein Schamgefühl hat, zum Beispiel, während es dem Gros der Bevölkerung abhanden kommt.
Ein merkwürdiger Held, man gewöhnt sich an ihn. Der Autor bleibt dicht bei ihm, auch als er eine Haftstrafe absitzen muss. „Auch seine Notizbücher nahm man ihm weg, ,vorsorglich‘. Er würde sie am Ende selbstverständlich ausgehändigt bekommen. Bender ertappte sich dabei, wie er auf die meisten Erklärungen des Wärters mit einem herzhaften Lachen reagierte. Das war die Todesangst. Außerdem fiel ihm auf, dass er gar nicht bemerkt hatte, wo sich die letzte, das heißt die endgültige Tür hinter ihm geschlossen hatte. An keiner Stelle hatte man hinter ihm aufwändig zugesperrt ... .“ Setz hält also nur eine Spur von Abstand, blickt auch nicht von oben auf die Handlung herab (dazu gäbe Bender einigen Anlass), er scheint vielmehr zwischen den Figuren herumzuwimmeln. Das hält das Buch beweglich, und der Autor hört und sieht, was Bender in seiner Hohlwelt-Blase verpasst.
Seine Frau hat Bender bei seinem Lazarettaufenthalt kennengelernt. Sie arbeitet als Sprachlehrerin, er denkt und schreibt (unter anderem einen Roman, „Karl Tormann – ein rheinischer Mensch unserer Zeit“, 1927), später zieht die Familie von Worms nach Frankfurt. Charlotte ist Jüdin. Die Bedrängnis, in die sie nach 1933 zunehmend gerät, nimmt Bender nur am Rande wahr, die Möglichkeit, vielleicht zu Gleichgesinnten (Verrückten) in die USA zu fliehen, wird viel zu spät und halbherzig in Angriff genommen. Die Situation schleicht sich auch im Roman quälend langsam heran, wie überhaupt das langsame, aber unaufhaltsame Vergehen von Zeit greifbar wird. Die Benders haben nicht die finanziellen Mittel, sich zu retten, aber auch nicht den Antrieb. Es gibt Gefahren, die zu groß sind, um sie zu erkennen.
Dabei hat Bender weiterhin Augen im Kopf. An der Großmarkthalle kommt er einmal vorbei, als hier jüdische Frankfurter Familien zusammengetrieben werden. Das Schild „SCHÜTZET DIE TIERE“ fällt ihm auf. „Bender sieht, dass immer wieder Leute, in Uniform wie in Zivil, auf diesen Schriftzug deuten, und da kommt es ihm so vor, als wäre nicht alles verloren, als läge vielleicht doch noch ein gewisser Humor greifbar in der Luft, eine Leichtigkeit, eine Menschlichkeit? Das muss einem doch auffallen, denkt er. Ja.“
„Monde vor der Landung“ enthält viele unvergessliche Szenen und eine Setz-Wendung nach der anderen („mit fortschreitender Nachtstunde wurden seine Gedanken oft feindselig und mikroskopisch“). Nicht unwesentlich ist allerdings auch der Hinweis, dass Bender nicht an die Gestapo ausgeliefert wird, weil er glaubt, die Erde sei hohl, sondern weil er eine gutherzige Seitenbemerkung macht. Was normale, freundliche Menschen eben zu anderen sagen.