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Claudia Piñeiro „Kathedralen“: Dieser Tod soll Gottes Wille sein?

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Von: Sylvia Staude

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In der Kathedrale von Santiago de Compostela.
In der Kathedrale von Santiago de Compostela. © IMAGO/Kena Images

„Kathedralen“, Claudia Piñeiros Kriminalroman über jene, die der Glaube grausam macht.

Als die Überreste ihrer 17-jährigen Schwester Ana begraben werden, kann Lía nicht anders, als das Gebet am Sarg zu verweigern. „Weil ich nicht an Gott glaube“, sagt sie laut – endgültig nicht mehr nach dieser Schrecklichkeit, diesem Mord, den ER zugelassen haben muss. Und dann, als alle anderen so tun, als sei nichts, fährt sie mit fester Stimme fort: „Ich glaube nicht an die Frucht eines jungfräulichen Leibes, ich glaube nicht an Himmel und Hölle, ich glaube nicht, dass Jesus auferstanden ist“. Ihre jüngere Schwester, das „Küken“ der Familie, wurde verbrannt, zerstückelt – und da soll sie nicht vom Glauben abfallen? Der ihre Mutter so hart macht. Der ihre Schwester Carmen so hart macht.

Die Argentinierin Claudia Piñeiro, Jahrgang 1960, erzählt in ihrem gerade in deutscher Übersetzung erschienenen Roman „Kathedralen“ („Catedrales“, 2020) von einer Familie, in die der Glaube einen so tiefen Keil treibt, dass eine Versöhnung undenkbar ist. Die moralische Rigidität derjenigen Mitglieder, die überzeugt sind, Gott an ihrer Seite zu haben, ist ohne Einsicht. Automatisch fühlen sie sich ent-schuldet.

Aus sieben Perspektiven wird „Kathedralen“ erzählt: fünf Familienangehörige sprechen/schreiben, dazu Anas beste Freundin Marcela und der Forensiker Elmer, den Anas Vater noch einmal kontaktiert, als er am Krebs stirbt und immer noch nicht weiß, wer seiner Tochter das angetan hat.

Das Buch:

Claudia Piñeiro: Kathedralen. Roman. A. d. Span. v. Peter Kultzen. Unionsverlag, Zürich 2023. 314 S., 24 Euro.

Lía hat das erste Wort. Einige Monate nach der Beerdigung ihrer Schwester hat sie Argentinien für immer verlassen, ist nach Santiago de Compostela gezogen – ausgerechnet, könnte man sagen; sie führt dort 30 Jahre später eine Buchhandlung, die ganz gut läuft, weil die Pilgernden, nachdem sie ihr Ziel erreicht haben, sich ein oder gar mehrere Bücher kaufen – nicht zuletzt Bildbände ihres Zieles. Sie müssen sie ja nun nicht mehr tragen. Da taucht Lías ältere Schwester Carmen im Laden auf, mit ihrem Mann Julián, der wegen Carmen einst das Priesterseminar verlassen hat. Sohn Mateo hat jeden Kontakt abgebrochen, die Eltern vermuten, er könnte zu seiner Tante gereist sein.

Von der Mitleidlosigkeit jener, die sich im Recht und ins Recht glauben, im wahrsten Sinn des Worts, die von keinem Zweifel befallen sind, handelt „Kathedralen“. Claudia Piñeiro zeigt auf, wie der Tod Anas auch eine Folge dieser Glaubensstarrheit ist, die noch dazu unterlegt ist mit einer Portion Heuchelei. Die Autorin lässt zwar nicht die strenge Mutter der Geschwister, aber doch Carmen und Julián ausführlich zu Wort kommen, sie dürfen sich gleichsam rechtfertigen. Oder eher, es versuchen. Bei Ana berufen sie sich auf „Gottes Wille“ – andererseits darauf, dass sie sich um ihren Sohn sorgen wie andere Eltern auch und nur sein Bestes wollen. Mateo denkt nicht daran, zurückzugehen nach Argentinien. „Wir sind wie eine große Narbe“, so sieht er seine Familie.

In die Vergangenheit verlegt Claudia Piñeiro die schrecklichen Vorkommnisse um Anas Tod, doch kann die Leserin, der Leser keinen Augenblick glauben, dass die Handlung – siehe etwa die USA mit ihren religiösen Fanatikern – nicht genauso gut in der Gegenwart spielen könnte. Die gewaltigen Gebäude, die auf der Welt zu Ehren Gottes erbaut wurden, beeindrucken auch Lía, beeindrucken Mateo, der von Kathedrale zu Kathedrale reisen will. Aber unter ihren hohen Kuppeln beten auch die Kleingeistigen und Hartherzigen und fühlen sich im Recht.

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