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„Christine“ für Mely Kiyak: Abschiede von sich selbst

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Von: Arno Widmann

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Erstmals wird der nach Christine de Pizan benannte Literaturpreis „Christine“ vergeben – an Mely Kiyak für „Frausein“.

Mely Kiyak hat im Berliner Literaturhaus den erstmals verliehenen Literaturpreis „Christine“ erhalten. Der mit 10 000 Euro ausgestattete Preis des Netzwerks der BücherFrauen ist nach der Philosophin und Dichterin Christine de Pizan (1364–1430). Mely Kiyak erhielt den Preis für ihr bei Hanser erschienenes Buch „Frausein“. Die Jury erklärte: „Mely Kiyak berichtet von der Selbstwerdung einer Frau mit kurdischen Wurzeln, vom Prozess des Ankommens in der eigenen Existenz als Frau und Schriftstellerin. Von Krankheit, Alleinsein und dem Entdecken der eigenen Sprache. Ihr Buch macht Mut, den eigenen Weg zu gehen, eigenständig und unabhängig.“

In Ihrer Dankesrede machte Mely Kiyak witzig und wortgewandt deutlich, dass sie zwar sehr froh über diesen Preis sei, dass es sie auch freue, Menschen Mut zu machen, dass es ihr aber beim Schreiben darum nicht gegangen sei. Die Autorin Mely Kiyak sei nicht identisch mit der Person, die jetzt hier stehe und versuche, ihre Gedanken möglichst publikumswirksam vorzutragen. Die Autorin habe allein an ihrem Schreibtisch gesessen und versucht zu schreiben. „Versucht“ – mehr gehe nicht.

Wenn es im Text einmal heiße, dass sie Kaffee trinke, dann sei das nicht unbedingt die Beschreibung einer realen Situation. Sicher aber wäre an dieser Stelle das einsilbige „Tee“ ganz und gar ungeeignet gewesen. Sie habe dort einen Zweisilber gebraucht. Literatur sei immer auch Musik und die sei ihr immer schon, aber diesmal besonders wichtig gewesen. Man dürfe beim Genre „Autofiktion“ das „Fiktion“ nicht überhören. Immer wieder habe sie sich beim Schreiben den Gesetzen der Fiktion unterworfen.

Auf diese Weise ist das intimste Buch ihrer Bücher entstanden oder doch das, das den Eindruck vermittelt, der Autorin so nahe zu kommen wie in keinem ihrer anderen Bücher. Es ist auch das Produkt einer immer wieder lebensbedrohlichen Krankheit oder einer Folge sehr unterschiedlicher Krankheiten und einer daher rührenden existenziellen Unsicherheit. Angesichts der Bedrohung knickte sie nicht ein, sondern fand Mut und Kraft, aus der Routine ihrer Kolumnen (lange auch in der FR) auszubrechen und dieses so ganz andere Buch zu schreiben.

Kürzlich erst bekam sie den Kurt-Tucholsky-Preis und wurde zu Recht als energische Polemikerin gefeiert. In „Frausein“ hat sie den Mut zur Schwäche. Gleich zu Beginn, als ihre Augen versagen, spricht sie vom „Abschied von mir selbst“. Es war ein hart erkämpftes Selbst gewesen, das ihr Körper da torpedierte. Am Freitagabend brachte sie die kleine Versammlung zum Lachen. Wie eh und je. Wer ihr Buch gelesen hatte, der bewunderte sie und ihr neues Selbst.

Es muss bei dieser Gelegenheit an Christine de Pizan erinnert werden. Geboren in Venedig, kam sie vierjährig – ihr Vater war der Mediziner und Astrologe Tommaso da Pizzano – an den französischen Hof von Charles V.. Mit 25 war sie Witwe, 15 Jahre lang prozessierte sie um ihr Erbe. Sie veränderte, so schrieb sie, ihr Selbst. Kein Schriftsteller vor ihr in Frankreich konnte von der schriftstellerischen Arbeit leben. Eine Immigrantin. Keines ihrer Bücher scheint derzeit auf Deutsch lieferbar zu sein. Das ist ein Verbrechen.

Von kaum jemandem lässt sich so gut lernen, wie wichtig es ist, die eigene Lage zu analysieren, wie viel Spaß das machen kann und wie sehr das den Blick auf die Gesellschaft verändert. Christine de Pizan veröffentlichte nicht nur „Die Stadt der Frauen“, die Fellinis Film seinen Titel gab, sondern mehr als zwei Dutzend Bücher, darunter Biografien und Epen. Früh hatte sie eine sehr persönliche Sammlung mit Gedichten über ihre Witwenschaft vorgelegt. Später griff sie immer wieder in politische Debatten ein. So erfand sie sich immer wieder neu.

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