Genie und Krankheit

Christian Niemeyers zeitgemäße Nietzschemonographie.
Derzeit ist es einhundertundzwanzig Jahre her, dass Friedrich Nietzsche, eine der wirkmächtigsten Gestalten der – mindestens deutschen – Geistesgeschichte zu Grabe getragen wurde. Woran er, der eine Philosophie am „Leitfaden des Leibes“ betreiben wollte, starb, ist nach wie vor umstritten. Sicher ist nur, dass Nietzsche im Wahn starb: ein Umstand von erheblicher, nicht zuletzt philosophischer Bedeutung.
War doch die Geistesgeschichte schon immer an der Frage interessiert, wie die Lebensgeschichte von Philosophen mit ihrem Denken zusammenhängt. Dabei stechen Nietzsches Leben und vor allem sein Tod besonders hervor – etwa im Vergleich mit Kant und Hegel. Während jener als hochbetagter Hagestolz im Alter von knapp achtzig Jahren, klar im Kopf starb, wurde der brave, bürgerliche Familienvater Hegel nur sechzig Jahre alt und starb an der Cholera oder – wie neuerdings vermutet – einem Magenleiden. Nietzsche jedoch, gerade einmal zehn Jahre ordentlicher Professor in Basel, starb mit fünfundfünfzig Jahren in geistiger Umnachtung. So unregelmäßig sein Leben, so unsystematisch und aufwühlend seine Philosophie: ein Denken, das alle bisher gewohnte Systematik aufstörte.
Vor allem aber wurde der Philosoph, der den Tod Gottes verkündigt hatte, gut dreißig Jahre nach seinem Tod zu einem Vordenker des Nationalsozialismus erklärt – eine Ansicht, die seit langem von nicht wenigen, rechtem Denken in jeder Hinsicht abgeneigten Philosophen – man denke nur an Georg Lukács – begründet vertreten wird.
Darauf antwortet jetzt eine Studie von stupender Gelehrsamkeit. Christian Niemeyer, einer der wohl besten Kenner von Nietzsches Leben und Werk, stellt in seinem neuen Buch ein weiteres Mal seine intime Kenntnis von Nietzsches Leben und Werk sowie seiner Zeit und seinen Zeitgenossen unter Beweis. Geht es dem Autor doch um nicht mehr und nicht weniger als um die seit mehr als einhundert Jahren diskutierte Frage, ob Nietzsches Denken nicht letztlich Ausdruck einer zu ihrer Zeit pandemischen Krankheit war, der Syphilis; jener „Lustseuche“, die er sich wahrscheinlich im Alter von einundzwanzig Jahren bei einem Bordellbesuch in Leipzig zugezogen haben und an der er – als frühpensionierter Professor – gestorben sein soll.
Gleichwohl wurde Nietzsche, vor allem ob des von seiner Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche postum herausgegebenen Werk „Der Wille zur Macht“, zu dem Hausphilosophen des Nationalsozialismus. Die Berechtigung der nationalsozialistischen Einvernahme zu widerlegen, ist das Ziel von Niemeyers Buch.
Das Buch
Christian Niemeyer: Nietzsches Syphilis- und die der Anderen. Eine Spurensuche. Karl Alber 2020. 548 S., 39 Euro.
Während er im ersten Teil der „Spurensuche“ akribisch siebenundsiebzig (!) Schriften, die sich medizinisch und medizinhistorisch mit den Ursachen von Nietzsches Tod befassen, kritisiert, geht es im zweiten Teil um die Frage, wie sich Nietzsche in seinen Schriften zu der von ihm schon früh als Syphilis beargwöhnten Krankheit verhielt. Der dritte Teil bietet eine umfassende Literaturgeschichte der Syphilis von Rousseau über Baudelaire und Oscar Wilde bis zu Arthur Schnitzler. Das Buch schließt mit Hitlers in „Mein Kampf“ dokumentierter Syphilophobie und mit ihren furchtbaren Auswirkungen in der „Euthanasie“-Politik des Nationalsozialismus.
Verkürzt geht es Niemeyer um den Nachweis, dass Nietzsches unbestreitbar menschenfeindliche Äußerungen gegen die Schwachen letztlich Ausdruck des Haderns mit seiner Krankheit gewesen sind, denn: „Nietzsche hatte“, so Niemeyer, „Syphilis (…) und erörterte dieses Thema und die Sorgen, die er sich um es machte, vielfältig und in der Summe mit schockierenden Schlussfolgerungen, ohne dass die Nietzscheforschung weltweit dem bis auf den heutigen Tag ausreichend Rechnung trug.“ Als Beleg dafür führt er auf dem Wege des Indizienbeweises etwa Zeilen aus dem „Zarathustra“ an: „Das heilige Wasser haben sie vergiftet mit ihrer Lüsternheit: und als sie ihre schmutzigen Träume Lust nannten, vergifteten sie auch noch die Träume.“
Ein Reflex auf den vermuteten Bordell-Besuch Nietzsches in jungen Jahren in Leipzig, bei dem er sich wahrscheinlich infizierte. Krasser noch enthalten Nietzsches „Streifzüge eines Unzeitgemäßen“ das mörderische Programm der an Syphilis im Endstadium Erkrankten NS-„Euthanasie“: „Der Kranke“ so Nietzsche „ist ein Parasit der Gesellschaft.(…) Das Fortvegetieren in feiger Abhängigkeit von Ärzten und Praktiken, nachdem der Sinn vom Leben, das Recht zum Leben verloren gegangen ist…“.
Niemeyer lässt keinen Zweifel an der zutiefst menschenfeindlichen Tendenz dieser Äußerungen, denen er zu Recht eine Nähe zur mörderischen Programmatik der nationalsozialistischen „Rassenhygiene“ zuschreibt. Indem er jedoch versucht, diese Äußerungen als eine Form von Selbsthass und damit geistiger Selbstheilung zu deuten, will er nachweisen, dass sowohl linke Philosophen als auch weit rechts stehende Ideologen Nietzsche zu Unrecht zu einem sozialdarwinistischen Denker erklärt haben: sei es doch in letzter Instanz die Sexualfeindlichkeit der christlichen Kultur gewesen, die Nietzsche schutzlos ins Bordell getrieben habe.
Mit dieser Vermutung lässt sich dann die von Nietzsches Schwester Elisabeth befeuerte NS-Ideologiepolitik auf den Punkt bringen: „Nazifizierung Nietzsches durch Entsyphilisierung und Verschweigen aller Probleme, die ihm sein Leib, besser wohl: sein Unterleib machte“!
Es ist mehr als ein Zufall, dass dieses provozierende Buch in einer Zeit erscheint, in der eine andere Pandemie, Corona, den Alltag beinahe aller Menschen in einer so nie gekannten Weise grundlegend verändert. Sollte die Rolle von Krankheiten – neben Ökonomie, Recht und Religion – in der allgemeinen Geschichte bisher zu geringgeschätzt worden sein?
Indes: Gerade wenn dem so wäre, sind unter Krankheitsbedingungen entstandene Werke allemal mehr als Ausdruck der Intentionen ihrer Autoren und Autorinnen: auch und gerade ein brillanter Kopf wie Nietzsche zehrte von einem Zeitgeist, den er vorfand und der ihn prägte. Auf jeden Fall: Wer zu dieser hochaktuellen Thematik mehr wissen will, kommt um das geduldige Studium dieser anspruchsvollen Neuerscheinung nicht herum.